Sein Bruder Kain
Augenblick anspringen würde, in dem Sie es am wenigsten erwarten, an solche Dinge gedacht? Hätten Sie an irgend etwas anderes gedacht als daran, sich zu verteidigen? Wenn eine Waffe im Spiel war und der Angreifer jünger und stärker als Sie war und Sie wußten, daß er schon einen Mann getötet hatte und daß ihm die Gefahr drohte, gehängt zu werden, so daß er nichts zu verlieren hatte, selbst wenn man ihn der Tat überführte, hätten Sie dann überhaupt an irgend etwas gedacht oder einfach nur um Ihr Leben gekämpft?«
Rathbone biß sich auf die Lippen. »Wenn Caleb Stone mich angegriffen hätte, hätte ich nur einen Gedanken gehabt - überleben«, gab er zu. Ein Muskel in seinem Gesicht zuckte.
»Aber ich bin nicht sein Vater…«
Monk zuckte die Achseln. »Als ich ihn den Fluß hinunter verfolgte, habe ich überhaupt nicht nachgedacht. Ich hatte nichts anderes im Sinn, als ihn zu fangen. Ich habe nicht einmal meine verstauchten Knöchel und blauen Flecken bemerkt.«
Rathbone sah Hester an. »Sind Sie sicher, daß er nicht sofort aufgeschrien hat, nach dem ersten Schrecken über den Angriff? Es könnte einen Augenblick gedauert haben, bis er ihn abgewehrt und seine Sinne wieder beisammen hatte.«
»Er hatte vier verschiedene Wunden«, antwortete sie. »Und die waren allesamt sauber. Er könnte in den nächsten ein oder zwei Tagen noch ein paar blaue Flecken dazubekommen, und seine Kleider waren ein wenig zerrissen, wie es bei einem Kampf passiert. Aber Caleb hatte nur eine echte Verletzung, und das war die Stichwunde an seiner Kehle, die ihn getötet hat.«
»Was wollen Sie damit sagen?« Rathbone beugte sich vor.
»Daß Ravensbrook sich geirrt hat oder daß er in irgendeinem wesentlichen Punkt lügt?«
»Ja, das glaube ich. Ich glaube, daß er lügt«, antwortete sie nachdrücklich. »Ich weiß nur nicht, warum.«
Monk nippte an seinem Port und blickte von einem zum anderen.
»Sie meinen, es hat einen beträchtlichen Kampf gegeben, bevor er um Hilfe rief?« hakte Rathbone nach. »Welchen Grund sollte er haben? Wenn es kein Selbstmord und kein Unfall war, wollen Sie dann behaupten, daß Ravensbrook ihn ermordet hat? Warum um alles in der Welt sollte er das tun? Doch nicht nur, um sicherzustellen, daß man ihn nicht hängen konnte? Das ist ziemlich absurd.«
»Dann gibt es irgend etwas, das wir nicht wissen«, antwortete Hester. »Etwas, das der Sache einen Sinn verleihen würde… oder wenn nicht einen Sinn, dann zumindest etwas, das man nachvollziehen könnte.«
»Menschen töten aus den verschiedensten Gründen«, sagte Rathbone nachdenklich. »Habgier, Angst, Haß. Wenn die Tat unvernünftig ist, dann hat sie ihre Wurzeln vielleicht einfach in tiefen Gefühlen, aber wenn sie vernünftig ist, dann resultiert sie aus etwas, das früher geschehen ist und um zu verhindern, daß in Zukunft noch etwas anderes geschieht, um sich selbst oder jemanden, den man liebt, vor Verlust oder Schmerz zu bewahren.«
»Was könnte Caleb Ravensbrook, abgesehen von einer Verurteilung, antun? Welche Schande konnte er über ihn bringen, jetzt, da er sich bereits so gründlich in Schande gestürzt hatte?« Monk schüttelte den Kopf. »Hester hat recht. Es muß etwas ganz Wesentliches geben, das wir nicht wissen, etwas, auf das wir bisher überhaupt noch nicht gestoßen sind.« Er drehte sich zu Rathbone. »Was wäre als nächstes passiert, wenn Caleb weitergelebt hätte?«
»Morgen hätte die Verteidigung begonnen«, erwiderte Rathbone langsam, und seine Sinne schärften sich plötzlich, während er sein Weinglas weiter ignorierte. »Vielleicht sollten wir mit Ebenezer Goode sprechen? Ich dachte, ich wüßte, was er tun würde, aber vielleicht weiß ich es doch nicht.«
Monk sah ihn an. »Was hätte er tun können? Auf Wahnsinn plädieren? Das beste Argument, das er hat, war, daß es sich um einen Unfall handelte, daß Caleb nicht die Absicht hatte, seinen Bruder zu töten, und daß er, als es dann doch geschehen war, in Panik geriet. Entweder das, oder er hätte versuchen können, die Geschworenen davon zu überzeugen, daß es nicht genug Beweise gibt, um behaupten zu können, daß Angus überhaupt tot ist. Und ich glaube nicht, daß er damit durchgekommen wäre.«
»Dann ist das vielleicht des Rätsels Lösung.« Rathbone ballte seine Hände auf dem weißen Tischtuch zu Fäusten. »Er wollte irgendeinen Beweis vorlegen, um zu zeigen, daß Angus nicht der gerechte und ehrenwerte Mann war, für den wir alle ihn
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