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Sein Bruder Kain

Sein Bruder Kain

Titel: Sein Bruder Kain Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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lassen Sie uns zusammen essen«, lud Rathbone sie ein, wobei er mit einer einfachen Geste auch Monk einschloß. »Das heißt, wenn Sie nicht mit Lady Ravensbrook zurückkehren oder nach Limehouse fahren müssen?« Sie schüttelte den Kopf. »Was den Typhus betrifft, haben wir das Schlimmste überstanden. Es hat jetzt schon seit mehr als zwei Tagen keine neuen Fälle gegeben, und viele der Patienten, die noch im Hospital sind, erholen sich langsam. Ich… ich würde gern noch etwas mehr über Caleb Stone nachdenken.«
    Bevor sie dieses Thema jedoch auch nur berührten, nahmen sie ein wohlschmeckendes Mahl ein. Rathbones Haus war warm und still und in der zurückhaltenden Art der Regency-Epoche mit ihren klaren Farben möbliert, wie es ein halbes Jahrhundert zuvor Mode gewesen war. Das ganze Haus verströmte Behaglichkeit und vermittelte ein Gefühl von Weite. Hester hatte nicht gedacht, daß sie überhaupt etwas essen wollte, aber als man die Speisen auftrug, ohne daß sie etwas zu ihrer Zubereitung hatte beitragen müssen, stellte sie fest, daß sie doch recht hungrig war. Als sie den letzten Gang beendet hatten, lehnte Rathbone sich zurück und sah sie an.
    »Und was ist es, das Ihnen Sorgen bereitet? Fürchten Sie, daß es Selbstmord war? Und wenn ja, spielt das wirklich eine Rolle?
    Wem wäre damit geholfen, wenn wir es beweisen würden, es könnten?«
    »Warum sollte er zu diesem Zeitpunkt Selbstmord begangen haben?« fragte sie und tastete sich vorsichtig; durch die Gedanken, die in ihrem Kopf durcheinanderliefen, die Erinnerung an die Wunden, die sie gesehen hatte, und an das kleine, sehr scharfe Messer, das beinahe wie ein Skalpell war und mit der Spitze der Klinge in Calebs Hals gesteckt hatte, während sein silberner Griff in einer Blutlache neben ihm gelegen hatte. »Seine Verteidigung hatte noch nicht einmal begonnen!«
    »Vielleicht hatte er keine Hoffnung auf Erfolg?« meinte Monk. »Das glauben Sie doch selbst nicht«, sagte Rathbone sofort. »Könnte er sich in einem Anfall von Reue getötet haben? Vielleicht haben die Zeugenaussagen, die wir gehört haben, ihm die Sache erst so richtig bewußt gemacht. Ein wahrscheinlicherer Grund wäre da meiner Meinung nach die Begegnung mit Ravensbrook gewesen und das Wissen, welchen Kummer er ihm bereitet hatte, ihm und natürlich auch Genevieve.«
    »Genevieve?« Monk hob die Augenbrauen. »Er haßte sie. Sie war ein Teil von all dem, was er an Angus verachtete - die bequeme, gottesfürchtige Ehefrau mit ihrem lächelnden, selbstzufriedenen Gesicht und ihrer totalen Ignoranz der Tragödie und der häßlichen Realität jener Art von Leben, wie er es führte, ihre Unwissenheit, was Armut und Elend und Schmutz bedeuteten.«
    »Sie wissen nichts über Genevieve, nicht wahr?« Hester sah von einem der Männer zum anderen und entdeckte nichts als Verständnislosigkeit in ihren Gesichtern. »Nein, natürlich wissen Sie es nicht. Sie ist in Limehouse aufgewachsen…«
    Rathbone war überrascht. Er saß völlig reglos da, und nur seine Lippen öffneten sich ein klein wenig.
    Monk dagegen stieß ein ungläubiges Schnauben aus und hob die Hand, als wolle er den Gedanken als völlig absurd abtun, wobei er mit dem Ellbogen gegen sein leeres Weinglas stieß, so daß es klirrend gegen ein anderes fiel.
    »Jawohl, so ist es!« sagte Hester scharf. »Ich habe fast einen Monat in Limehouse verbracht, und ich kenne die Menschen, mit denen sie aufgewachsen ist. Sie erinnern sich an sie. Ihr Name war damals Ginny Motson.«
    Monk sah sie erstaunt an. Sein Gesicht spiegelte keinen anderen Ausdruck als Überraschung wider.
    »Ich nehme an, Sie würden so etwas nicht behaupten, wenn Sie sich da nicht absolut sicher wären«, sagte Rathbone ernst.
    »Das ist kein Gerücht, oder?«
    »Nein, natürlich nicht«, antwortete Hester. »Sie hat es mir selbst erzählt, als ihr klarwurde, daß ich es erraten hatte.«
    Eine Weile saßen sie schweigend da und versuchten sich an diesen neuen und erstaunlichen Gedanken zu gewöhnen. Der Butler kam herein und räumte das restliche Geschirr ab, bevor er Monk und Rathbone ein Glas Portwein anbot. Er verbeugte sich höflich vor Hester, schenkte ihr ansonsten aber keine Beachtung. Sie verwirrte ihn, und seine Unsicherheit stand ihm ins Gesicht geschrieben.
    »Das würde eine ganze Reihe von Dingen erklären«, räumte Monk schließlich ein. »Vor allem ihre panische Angst vor Armut. Keine Frau, die sie nicht am eigenen Leib erfahren hat, würde sich so

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