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Sein Bruder Kain

Sein Bruder Kain

Titel: Sein Bruder Kain Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Leben und Tod.
    Fleisch, Milch und Obst waren genausowenig wie grünes Gemüse zu bekommen. Vielleicht würden sie mit Kartoffeln mehr Glück haben, obwohl selbst die zu dieser Jahreszeit rar waren. Wahrscheinlich würden sie sich mit Brot begnügen müssen, mit Trockenerbsen und Tee, wie alle anderen in dieser Gegend auch. Sie würden vielleicht ein wenig Schinken bekommen können, obwohl man damit sehr vorsichtig sein mußte. Fleisch konnte immer von Tieren kommen, die an einer Krankheit gestorben waren, und trotzdem gab es nur ganz wenig davon. Die meisten Familien konnten sich solchen Luxus nur für den arbeitenden Mann leisten. Das Überleben aller hing davon ab, daß er sich so viel von seiner Kraft bewahrte wie nur möglich.
    Im Lauf der nächsten Stunden und sogar während der ganzen Nacht wurden Patienten zu ihnen gebracht, manchmal mehrere gleichzeitig. Nicht einmal Kristian konnte viel für sie tun, außer dafür zu sorgen, sie mit dem wenigen, was sie hatten, so sauber und bequem unterzubringen wie es nur ging, und sie mit kühlem, mit Essig versetztem Wasser zu waschen, um das Fieber zu senken. Einige der Kranken fielen erschreckend schnell ins Delirium.
    Die ganze Nacht hindurch gingen Hester, Callandra und Enid Ravensbrook mit Wasserschalen und Tüchern von einem behelfsmäßigen Strohlager zum nächsten. Kristian war aus dem Krankenhaus, in dem er arbeitete, zurückgekehrt. Mary und eine andere Frau liefen hin und her, um die Eimer des Eisenhändlers in die Senkgrube auszuleeren. Um halb zwei entspannte sich die Lage ein wenig, und Hester nutzte die Gelegenheit, um warmen Haferschleim zuzubereiten und die Hälfte des Inhalts einer Ginflasche zur Säuberung von Schalen und anderen Dingen zu benutzen.
    Plötzlich hörte sie ein Geräusch von der Tür, und als sie aufblickte, sah sie Mary, die mit zwei Kübeln Wasser, die sie aus dem Brunnen der Nachbarstraße heraufgezogen hatte, ins Zimmer trat. Im Kerzenlicht sah sie aus wie eine groteske Milchmagd; ihre Schultern waren gebeugt, und Wind und Regen hatten ihr die Haare ins Gesicht geweht. Das Mieder ihres schlichten Wollkleides war naß, und ihre Röcke waren schlammbespritzt. Sie wohnte ganz in der Nähe und hatte ihre Hilfe angeboten, weil ihre Schwester zu denen gehörte, die von der Seuche heimgesucht worden waren. Mit einem unwillkürlichen Seufzer der Erleichterung setzte sie die Kübel ab und lächelte Hester zu.
    »Bitt' schön, Miss. Bißchen Regen mit drin, aber das wird wohl nich' schaden. Soll ich's heiß machen?«
    »Ja, ich kann gut noch etwas mehr Wasser gebrauchen«, erwiderte Hester und zeigte auf den Kessel, in dem sie rührte.
    »War es auf der Krim auch so?« fragte Mary mit gedämpfter Stimme, nur für den Fall, daß eines der armen Geschöpfe wirklich schlief und nicht einfach bewußtlos war.
    »Ja, so ähnlich«, antwortete Hester. »Nur daß wir da natürlich mit Schußwunden zu tun hatten, mit Amputationen und Wundbrand. Aber natürlich hatten wir auch viele Fieberkranke dabei.«
    »Ich glaub', ich wär' gern dabeigewesen«, meinte Mary, während sie sich streckte und vorbeugte, weil das Gewicht des Wassers ihr Rückenschmerzen beschert hatte. »Muß besser sein als das hier. Hätte mal fast 'nen Soldaten geheiratet.« Ein flüchtiges Lächeln spielte um ihre Lippen, als sie an diese Romanze zurückdachte. »Aber dann hab' ich meinen Ernie geheiratet. War bloß 'n Maurer, aber wirklich lieb.« Sie schniefte. »Hat's nie bis zur Armee gebracht. Hatte schlimme Beine. Hatte als Kind Rachitis. Böse Sache, Rachitis.« Sie streckte sich noch einmal und trat näher an den Ofen heran, wobei ihre nassen Röcke gegen ihre Beine klatschten und das Wasser in ihren Stiefeln gluckste. »Is' an Schwindsucht gestorben, mein Ernie. Konnte sogar lesen, hmhm, Hauptmann von den Männern des Todes hat er's genannt. Die Schwindsucht, mein' ich. Hat er mal irgendwo gelesen, das.« Sie begutachtete den Haferschleim, hob dann einen der Kübel hoch und goß eine Gallone Wasser hinzu, um ihn zu verdünnen.
    »Vielen Dank«, sagte Hester. »Ihr Ernie scheint etwas ganz Besonderes gewesen zu sein.«
    »Das war er«, erwiderte Mary mit stoischer Ruhe. »Vermisse ihn sehr, den armen Kerl. Meine Schwester Dora wollte unbedingt hier raus. Hätt' nie gedacht, daß sie's in einem Sarg tun würde, jedenfalls noch nicht jetzt. Nicht daß viele, die von hier wegkommen, es weit brächten. Ginny Watson vielleicht. Die war hübsch und hatte es in sich, jawohl. Weiß

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