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Sein Bruder Kain

Sein Bruder Kain

Titel: Sein Bruder Kain Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Wo bleiben die Bauarbeiter, die Schuster, die Bäcker, die ganz gewöhnlichen Leute?«
    »Die arbeiten«, sagte Kristian einfach. »Man kann nicht im Rat sitzen, wenn man nicht Geld und Zeit hat. Gewöhnliche Männer tun ihre Arbeit, sie können es sich nicht leisten, darauf zu verzichten.«
    Hester holte tief Luft, um neuerliche Einwände zu erheben. Kristian kam ihr zuvor. »Man darf sich nicht einmal an der Wahl der Ratsmitglieder beteiligen, wenn man selbst nicht ein Vermögen von mehr als tausend Pfund besitzt«, stellte er fest.
    »Oder Mieteinnahmen von mehr als hundert Pfund im Jahr. Das schließt die große Mehrheit der Männer aus, und natürlich sämtliche Frauen.«
    »Also werden ohnehin nur einflußreiche Geschäftsleute gewählt werden!« sagte Hester mit vor Zorn bebender Stimme.
    »So ist es«, erwiderte Kristian. »Aber es ist niemandem damit gedient, wenn wir unsere Energie auf etwas verschwenden, das wir nicht ändern können. Zorn ist ein gefühlsmäßiger Luxus, für den wir keine Zeit haben.«
    »Dann müssen wir das ändern!« Callandra schien an ihren Worten beinahe zu ersticken, so überwältigend war ihr Ärger. Sie fuhr herum, um sich mit Tränen der Ohnmacht in den Augen in dieser Scheune umzusehen, in der sie Menschen gesund pflegen wollten. »Es ist unvorstellbar, daß wir Menschen in einem solchen Verschlag unterbringen müssen, Menschen, die wir nicht retten können, weil ein paar verfluchte kleine Krämer nicht bereit sind, einen Penny mehr Gemeindeabgaben zu bezahlen, damit wir die Abwässerkanäle aus den Straßen wegbekommen!«
    Kristian sah sie mit so unverhohlener Zuneigung an, daß Hester, die zwischen ihnen stand, sich wie ein Eindringling vorkam.
    »Meine liebe Callandra«, sagte er geduldig. »Die Sache ist sehr viel komplizierter. Zunächst einmal wäre da die Frage, was wir damit anfangen sollen. Einige Leute befürworten ein Wasserleitungssystem, aber auch das muß irgendwo enden, und was würde dann aus dem Fluß? Er würde zu einer einzigen großen Kloake verkommen. Und wir bekämen auch Probleme mit dem Wasser. Bei starkem Regen würde es möglicherweise nicht ablaufen, und der ganze Unrat der Stadt würde sich in die Wohnhäuser ergießen.«
    Sie sah ihn an, dachte über die schlimme Situation nach und nahm dabei mit allen ihren Sinnen sein Gesicht, seine Augen und seinen Mund wahr. »Aber im Sommer wird der Unrat von den trockenen Abfallhaufen überall hingeweht«, sagte sie.
    »Selbst die Luft ist erfüllt vom Staub des Dungs und schlimmerer Dinge.«
    »Ich weiß«, erwiderte er.
    Aus dem Treppenhaus hörten sie ein Geräusch. Sie hatten gar nicht bemerkt, daß Mary gegangen war, aber nun kehrte sie mit einem auffällig kleinen Mann zurück, der einen abgewetzten Hut trug und eine Jacke, die mehrere Nummern zu groß war.
    »Das ist Mr. Stabb«, stellte sie ihn vor. »Und er wird uns für einen Penny am Tag zwei Dutzend Eimer und Töpfe zur Verfügung stellen.«
    »Das Stück natürlich«, warf Mr. Stabb hastig ein. »Ich habe eine Familie zu ernähren. Aber meine Ma ist achtundvierzig an Cholera gestorben, und da möcht' ich doch jetzt auch mein Scherflein beitragen, sozusagen.«
    Hester holte schon tief Luft, um mit dem Mann zu feilschen.
    »Vielen Dank«, sagte Callandra schnell, bevor ihre Freundin zu Wort kommen konnte. »Wir brauchen sie sofort. Und wenn Sie noch jemand anderen kennen, der bereit wäre zu helfen, schicken Sie ihn bitte her.«
    »Geht klar«, versprach Mr. Stabb nachdenklich, und seine Züge verrieten deutlich, daß er im Geist hastige Berechnungen anstellte.
    Weitere Überlegungen dieser Art wurden jedoch durch die Ankunft mehrerer Ballen Stroh und Tuch zunichte gemacht, alter Segel und Sackleinen, aller möglichen Gewebe, die irgendwie dazu taugen mochten, als Lager und Decken zu dienen.
    Hester ging aus dem Zimmer, um Brennmaterial für die beiden schwarzen Kanonenöfen zu beschaffen, die so viele Stunden des Tages wie nur möglich brennen mußten, nicht nur wegen der Wärme, sondern auch, damit sie Wasser und Haferschleim kochen konnten oder was sonst noch an Eßbarem zu bekommen war; niemand, dem es gut genug ging, um Nahrung aufnehmen zu können, sollte Hunger leiden. Da Typhus eine Krankheit des Darms war, würden das sicher nicht viele sein, aber falls jemand das Schlimmste überlebte, würde er nach der Krise stärkere Nahrung brauchen. Und natürlich war Flüssigkeit jeder Art von größter Wichtigkeit, denn sie entschied häufig über

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