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Sein Bruder Kain

Sein Bruder Kain

Titel: Sein Bruder Kain Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Fälle, nicht mitgerechnet die siebzehn Toten und die dreizehn Leute, die zu krank sind, um verlegt werden zu können. Es würde mich überraschen, wenn sie die Nacht überlebten.« Ihre Stimme wurde lauter. »Ich fühle mich so hilflos! Es ist so, als kämpfte man mit Mop und Putzeimer gegen die anströmende Flut!«
    Die Tür hinter Hester öffnete sich, und eine Frau von hinreißendem Äußeren trat ein, eine Flasche Gin unter dem Arm und jeweils eine in den Händen. Es war Enid Ravensbrook.
    »Das ist wohl besser als gar nichts«, sagte sie mit einem schwachen Lächeln. »Ich habe Mary geschickt, etwas sauberes Stroh zu holen. Sie kann es beim Stallknecht des Gasthofs am anderen Ende der Gasse versuchen. Seine Mutter ist eins der Opfer. Er wird tun, was er kann.« Sie stellte den Gin auf den Fußboden. »Ich weiß nicht, was ich mit dem Brunnen machen soll. Ich habe das Wasser heraufgepumpt, aber es riecht genauso wie der Schweinestall nebenan.«
    »Und wahrscheinlich aus gutem Grund«, sagte Hester und biß sich auf die Lippen. »In der Phoebe Street ist ein Brunnen, der dem Geruch nach einigermaßen in Ordnung ist, aber es wird furchtbar lästig sein, das Wasser von dort herüberzutragen. Und wir sind sehr knapp, was Eimer betrifft.«
    »Wir werden uns welche borgen«, meinte Enid resolut.
    »Wenn jede Familie auch nur einen für uns erübrigen könnte, hätten wir schnell für alle Zwecke genug beisammen.«
    »Ich fürchte, daraus wird nichts«, entgegnete Hester, während sie Eimer, Schrubber und Putzlappen sorgfältig wegräumte.
    »Die meisten Familien hier haben überhaupt nur einen einzigen Trog.«
    »Einen Trog wofür?« wollte Enid wissen. »Vielleicht können sie ihren Nachttopf auch zum Schrubben des Fußbodens benutzen?«
    »Einen Trog für alles«, erklärte Hester ihr. »Zum Schrubben des Fußbodens, um das Baby zu baden, als Nachttopf und zum Kochen.«
    »O Gott!« Enid stand stocksteif da und errötete dann; einen Augenblick lang war sie sprachlos. Dann holte sie tief Luft.
    »Tut mir leid. Ich bin wohl immer noch ziemlich ahnungslos. Ich werde einige Eimer kaufen.« Sie drehte sich auf dem Absatz um und wollte gerade gehen, als sie beinahe mit Kristian Beck zusammenstieß, der in der Tür stand. Sein Gesicht war starr vor Zorn, die brennende Röte auf seinen Wangen hatte nichts mit der Kälte draußen zu tun, und sein schöner Mund hatte sich zu einer schmalen Linie verzogen. Sie brauchten ihn nicht zu fragen, ob er bei der lokalen Behörde Erfolg gehabt hatte oder nicht.
    Callandra war die erste, die das Wort ergriff.
    »Nichts?« fragte sie leise und ohne eine Spur von Kritik in ihrer Stimme.
    »Nichts«, wiederholte er. Selbst mit diesem einen Wort verriet er einen leichten, kontinentalen Akzent, eigentlich kaum wahrnehmbar, nur eine zusätzliche Akkuratesse, die verriet, daß das Englische nicht seine Muttersprache war. Seine Stimme klang volltönend, sehr tief und drückte im Augenblick absolute Verachtung aus. »Sie machen hundert Ausflüchte, aber letzten Endes laufen sie alle auf dasselbe hinaus. Es ist ihnen nicht wichtig genug!«
    »Welche Entschuldigungen können sie haben?« fragte Enid scharf. »Was könnte das sein? Die Menschen sterben, zu Dutzenden, und es könnten Hunderte sein, bevor es vorüber ist. Das ist doch ungeheuerlich!«
    Hester hatte fast zwei Jahre als Krankenschwester bei der Armee verbracht. Sie wußte, wie solche Institutionen funktionierten. Keine einheimische Behörde konnte schlimmer sein als die militärischen Führungsstäbe oder in ihren Auffassungen noch halsstarriger und verknöcherter als diese. Callandras verstorbener Gatte war Armeearzt gewesen; auch sie war mit den Ritualen und eingefahrener Verhaltensweisen vertraut.
    »Geld«, sagte Kristian angeekelt. Dann sah er sich mit unverhohlener Zufriedenheit in dem sauber geschrubbten Lagerhaus um. Es war kalt und unmöbliert, aber sauber. »Der Bau ordentlicher Abwasserkanäle würde die Steuern um mindestens einen Penny erhöhen, und das will natürlich keiner von ihnen«, fügte er hinzu.
    »Aber begreifen diese Leute denn nicht…«, begann Enid.
    »Nur einen Penny…«, schnaubte Callandra.
    »Mindestens die Hälfte der Ratsmitglieder sind Ladenbesitzer«, erklärte Kristian mit müder Geduld. »Ein Penny zusätzliche Gemeindeabgaben würde ihrem Geschäft schaden.«
    »Die Hälfte des Rats Ladenbesitzer?« Hester zog ein Gesicht.
    »Das ist doch lächerlich! Warum so viele Vertreter einer Berufsgruppe?

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