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Sein Bruder Kain

Sein Bruder Kain

Titel: Sein Bruder Kain Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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was es bedeutete zu lieben.
    Nicht daß sie sich eingeredet hätte, daß die Barrieren zwischen ihnen überwunden waren. Natürlich waren sie das nicht. Mit der Rettung und der Rückkehr in den Alltag waren auch die Differenzen zwischen ihnen wiederaufgetaucht, die Schatten, die sie trennten. Sie war nicht die Art Frau, die ihn hinreißen konnte. Sie war zu zänkisch, zu unabhängig, zu direkt. Sie wußte nicht einmal, wie man flirtete oder einen Mann betörte, wie man ihm das Gefühl gab, ritterlich oder stark oder gar romantisch zu sein.
    Und er hatte zu oft schlechte Laune. Außerdem war er skrupellos und übermäßig kritisch, und seine Vergangenheit war dunkel, voller Ängste und Verrücktheiten, von denen nicht einmal er selbst wußte; vielleicht hatte es in seinem Leben Akte der Gewalt gegeben, die ihm selbst in Alpträumen nur halb bewußt waren, Grausamkeiten, die er sich einbildete, für die er aber keine Beweise hatte - bis auf das, was andere ihm erzählten, nicht mit Worten, sondern mit der Art, wie sie auf ihn reagierten, dem Aufflackern alten Schmerzes, alter Demütigungen, die sein scharfer, schneller Verstand und seine allzu bissige Zunge ihnen zugefügt hatten.
    Sie kannte alle Argumente, die sich genauso in ihr Gehirn bohrten wie die stachligen Strohhalme in ihre Arme und durch den dünnen Stoff ihres Kleides. Und so, wie sie jetzt süßes Vergessen umfing, löschte die Erinnerung an seine Berührung alles aus, bis sie so müde war, daß sie einschlafen konnte.

3
    Der Fall Stonefield verwirrte Monk. Nicht daß er ernsthafte Zweifel daran gehabt hätte, was Angus Stonefield zugestoßen war. Er fürchtete im Gegenteil stark, daß Genevieve recht hatte, daß Angus tatsächlich eine Nachricht von Caleb bekommen und seinen Bruder daraufhin sofort aufgesucht hatte. Aller Wahrscheinlichkeit nach war das der Grund, warum er die fünf Pfund, zwölf Shilling und Sixpence mitgenommen hatte, von denen Arbuthnot ihm berichtet und für die er eine Quittung zurückgelassen hatte. Monks Schwierigkeit bestand jetzt darin, seinen Tod zu beweisen, so daß die Behörden Genevieve den rechtmäßigen Status einer Witwe zuerkennen würden und sie sein Erbe antreten konnte. Dann war es ihr vielleicht möglich, das Geschäft zu verkaufen, bevor es durch Spekulationen und Vernachlässigungen ruiniert war und seine Rivalen Profit aus seiner Abwesenheit schlugen.
    Es würde nützlich sein, mit Callandra zu reden. Ein Teil ihres Abkommens war seine Bereitschaft, sie an jedem Fall teilhaben zu lassen, der schwierig oder besonders interessant war.
    Er war sich nicht sicher, ob diese Sache sie sehr bewegen würde oder nicht, aber er wußte aus Erfahrung, daß er schon allein dadurch, daß er ihr etwas erklärte, selbst klarer sehen würde. So war es meist. Sie stellte die richtigen Fragen und ließ ihn nicht mit Verallgemeinerungen oder Ungenauigkeiten davonkommen. Mit ihrer Kenntnis der Menschen, vor allem der Frauen, traf sie häufiger ins Schwarze als er. Sie hatte einen besonderen Sinn für zwischenmenschliche Beziehungen, der ihm mit einigem Schmerz und einem neuen Gefühl der Einsamkeit klarmachte, wie wenig er über gegenseitige Abhängigkeit und Nähe in Freundschaften und Familienbeziehungen wußte. Es gab so viele Lücken in seinem Leben, und er hätte nicht zu sagen vermocht, ob es solche Dinge für ihn wirklich nie gegeben oder ob er nur die Erinnerung daran verloren hatte. Und wenn er ein so klägliches und einsames Leben gelebt hatte, war das sein freier Wille gewesen? Oder hatten die Umstände ihn dazu gezwungen? Was war ihm in all diesen verlorenen Jahren widerfahren, und, weit wichtiger noch als dies, was hatte er mit ihnen angefangen?
    Natürlich hatte er einige Einzelheiten in Erfahrung gebracht, bruchstückhafte Erinnerungen, ausgelöst durch ein bestimmtes Bild oder Geräusch, den Anblick eines Gesichts. Einige Dinge hatte er aus anderen schließen können. Aber trotzdem gab es immer noch große, leere Zeitabschnitte, nur einen winzigen Lichtschimmer hier und dort, und was in diesem Licht sichtbar wurde, gefiel ihm häufig überhaupt nicht. Er hatte eine grausame Zunge und ein hartes Urteil gehabt, er war jedoch auch schlau gewesen…
    Aber wenn er niemals wirklich jemanden geliebt hatte oder von jemandem geliebt worden war, welchen Grund hatte es dann dafür gegeben? Welche Geister wandelten in dieser Düsternis? Welche Verletzungen mochte es gegeben haben, und würde er es je wissen? Würden sie

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