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Sein Bruder Kain

Sein Bruder Kain

Titel: Sein Bruder Kain Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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leugnen.
    »Behalten Sie den Jungen da drüben auf der linken Seite im Auge.« Sie zeigte auf eine zusammengekrümmte Gestalt, die in ungefähr zwanzig Fuß Entfernung halb auf der Seite lag. »Er hat sich ein Schultergelenk verrenkt. Ich habe es wieder eingerenkt, aber wenn er sich aufsetzt, um sich zu übergeben, rutscht es wieder heraus.«
    »Armes kleines Geschöpf«, seufzte Callandra. »So wie er aussieht, ist er höchstens zehn oder zwölf, aber das ist schwer zu sagen.«
    »Er meinte, er sei sechzehn«, erwiderte Hester. »Aber ich glaube nicht, daß er zählen kann.«
    »Ist das erst vor kurzem passiert? Die Schulter, meine ich?«
    »Das habe ich ihn auch gefragt. Er sagte, er sei Caleb Stone in den Weg gelaufen und hätte für seine Unverschämtheit Prügel bezogen.«
    Callandra zuckte zusammen. »Am anderen Ende der Reihe liegt eine Frau mit einer Narbe im Gesicht. Sie sagte, das sei auch Caleb Stones Messer gewesen. Sie hat mir nicht erzählt, warum. Er scheint ein sehr gewalttätiger Mann zu sein. Ich glaube, sie hat immer noch Angst vor ihm.«
    »Nun, hier werden wir ihn wohl nicht zu sehen bekommen«, meinte Hester trocken. »Es sei denn, er bekäme Typhus. Niemand kommt in Pesthäuser, um Rache zu nehmen oder um Schulden einzufordern, wie hoch sie auch sein mögen.« Sie sah sich in dem dunklen, höhlenartigen Raum des Lagerhauses um.
    »Und keine Rache könnte schlimmer sein als das hier«, fügte sie leise hinzu.
    »Gehen Sie, und ruhen Sie sich aus«, befahl Callandra. »Sonst sind Sie nachher nicht in der Verfassung zu arbeiten, wenn ich schlafe.«
    Hester gehorchte dankbar. Sie hatte es nicht gewagt, darüber nachzudenken, wie müde sie war, sonst hätte sie nicht weitermachen können. Jetzt zumindest stand es ihr frei, in den kleinen Raum zu gehen, in dem ein zusätzlicher Strohballen lag, auf den sie sich in der Dunkelheit niedersinken lassen konnte, ohne an ihre Pflichten zu denken, ohne die Geräusche des Erbrechens und das stete Bewußtsein menschlichen Leidens. Einen Augenblick lang durfte sie das alles vergessen und ihrer Erschöpfung nachgeben.
    Aber das Stroh kratzte. Es war viel Zeit vergangen seit Scutari, und sie hatte das Gefühl überwältigender Hilflosigkeit im Angesicht solch unendlichen Schmerzes vergessen; es ließ sich nicht so einfach, wie sie gedacht hatte, ausblenden. Ihre Ohren lauschten noch immer auf die Geräusche, und ihr Körper straffte sich, als müßte sie trotz allem, was Callandra gesagt hatte, wieder hinausgehen und das Ihrige tun, um zu helfen.
    Aber es wäre unsinnig gewesen. Schon bald würde sie zu erschöpft sein, um ihren Anteil an der Arbeit zu übernehmen, wenn Callandra und Kristian schliefen. Sie mußte ihren Geist ganz bewußt mit etwas anderem beschäftigen, mußte sich dazu zwingen, an etwas zu denken, das ihr half, diese furchtbaren Stunden zu vergessen.
    Die Gedanken kamen ungebeten, trotz ihrer festen Vorsätze, dieses Thema zu meiden. Vielleicht war es die Tatsache, daß sie unbequem in einem kleinen, fremden Raum lag, fast am Ende ihrer Kraft, sowohl körperlich als auch gefühlsmäßig; sie mußte an Monk denken, beinahe, als könne sie seine Wärme neben sich spüren, seine Haut riechen, und ein einziges Mal, seit sie sich kannten, wirklich wissen, daß es keinen Streit geben würde, keine Kluft, keine Barriere zwischen ihnen. Heiß schoß ihr das Blut in die Wangen, als sie sich daran erinnerte, wie uneingeschränkt sie sich ihm in diesem einen, alles verzehrenden Kuß überlassen hatte. Ihr ganzes Herz, ihren Verstand und ihren Willen hatte sie hineingelegt, all die Dinge, die sie ihm niemals hätte sagen können. Seit dem Abschluß des Farrahne-Falls hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Damals hatte sie im Eifer der Nachforschungen keine Zeit gefunden, mehr zu empfinden als Verlegenheit für einen flüchtigen Augenblick, so verzweifelt waren ihre Bemühungen gewesen, den Fall zu lösen.
    Wenn sie sich jetzt wiedersahen, würde alles anders sein. Erinnerungen, die keiner von ihnen ad acta legen oder vergessen konnte, würden zwischen ihnen stehen. Was er auch sagen mochte, wie er sich jetzt auch benehmen mochte, sie wußte, daß er in diesem Augenblick, als sie in dem geschlossenen Raum dem Tod ins Auge geblickt hatten, alle Masken fallen gelassen hatte, all seinen kostbaren und bis dahin so sorgfältig aufrechterhaltenen Selbstschutz; und im Angesicht einer schmerzhaften, verzweifelten Zärtlichkeit hatte er zugegeben, daß auch er wußte,

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