Sein Bruder Kain
nicht, was aus ihr geworden ist, auch nicht, wo sie hingegangen ist, aber irgendwo rauf nach Westen. Die hat's zu was gebracht. Hat reden gelernt wie feine Leute und sich wie 'ne Dame zu benehmen oder jedenfalls so was Ähnliches.«
Hester versagte sich irgendwelche Spekulationen dahingehend, daß sie wahrscheinlich in einem Bordell gelandet war. Der Traum von Freiheit war zu kostbar, um ihn einfach zu zerstören.
»Wahrscheinlich hat sie geheiratet«, fuhr Mary fort. »Hoffe ich jedenfalls. Ich mochte sie nämlich. Wollen Sie noch mehr Wasser, Miss?«
»Noch nicht, vielen Dank.«
»Oh - da muß sich jemand übergeben, armer Teufel.« Mary schnappte sich einen Eimer und eilte dem Kranken zu Hilfe. Enid trat aus der Dunkelheit auf der anderen Seite des Raums; ihr Gesicht war fahl, ihr volles, natürlich gewelltes Haar saß ein wenig schief auf ihrem Kopf, und ein länglicher Spritzer Kerzenwachs prangte an ihrem Mieder.
»Der kleine Junge am Ende der Reihe ist sehr schwach«, sagte sie tonlos. »Ich glaube nicht, daß er die Nacht überstehen wird.
Ich wünsche mir beinahe, daß es schnell geht, damit sein Leiden ein Ende hat, aber ich weiß, wenn er stirbt, werde ich mir wünschen, es wäre nicht passiert.« Sie putzte sich die Nase und schob sich das Haar aus den Augen. »Ist es nicht lächerlich? Ich habe ihn vor ein paar Stunden zum erstenmal gesehen, und doch trifft es mich so hart, daß ich kaum noch atmen kann. Ich habe ihn nicht einmal sprechen hören.«
»Zeit hat nichts damit zu tun«, erwiderte Hester im Flüsterton, während sie reichlich Salz und Zucker in den Haferbrei gab. Was der Körper verlor, mußte unbedingt wieder ersetzt werden. Während sie rührte, suchten sie ihre eigenen Erinnerungen heim, Soldaten, die sie vielleicht nur ein oder zwei Stunden gekannt hatte, und doch waren deren gequälte Gesichter ihr im Gedächtnis haftengeblieben, und der Mut, mit dem einige von ihnen ihre Wunden und die Zerstörung ihres Körpers trugen. Besonders einer der Männer stand ihr sogar jetzt noch ganz deutlich vor Augen. Sie konnte sein blutverschmiertes Gesicht in dem Kessel voller Haferbrei sehen, das angestrengte Lächeln, seinen blonden Schnurrbart und die formlose Masse da, wo seine rechte Schulter gewesen war. Er war verblutet, und sie hatte nichts tun können, um ihm zu helfen.
»Nein, wahrscheinlich nicht.« Enid griff nach den Schüsseln und rümpfte die Nase, als sie den unvermeidlichen Gingeruch wahrnahm. Dann begann sie in sechs der Schalen ein wenig Haferbrei zu schöpfen. »Ich weiß nicht, ob überhaupt jemand essen kann, aber wir sollten es wenigstens versuchen.« Sie sah den Brei unglücklich an. »Er ist zu dünn. Haben wir denn nicht etwas mehr Hafermehl?«
»Der Brei darf gar nicht so dick sein«, erklärte ihr Hester.
»Die Leute können nicht viel Nahrung aufnehmen. Das Wichtigste ist die Flüssigkeit.«
Enid holte tief Luft und begriff in diesem Augenblick möglicherweise, warum sie nicht einfach nur Wasser nahmen. Sie selbst hätte keinen Tropfen herunterbekommen, vor allem, da sie wußte, woher das Wasser kam. Schweigend nahm sie Schüsseln und Löffel und machte sich an die ermüdende, qualvolle Aufgabe, einem Menschen nach dem anderen dabei zu helfen, einen Schluck zu sich zu nehmen und nach Möglichkeit bei sich zu behalten.
Die Nacht ging nur langsam vorbei. Die Gerüche und Geräusche der Krankheit erfüllten den großen Raum. Schatten zuckten im flackernden Kerzenlicht hin und her, während der Talg herunterbrannte. Etwa gegen drei Uhr morgens kehrte Kristian zurück. Callandra ging zu Hester. Sie hatte dunkle Ringe der Erschöpfung unter den Augen, und ihre Röcke waren besudelt, da sie einem Kranken in höchster Not beigestanden hatte.
»Gehen Sie, und legen Sie sich ein paar Stunden schlafen«, sagte sie leise. »Kristian und ich kommen schon zurecht.« Ihre Worte klangen völlig natürlich, und doch wußte Hester, was es sie kostete, ihrer beider Namen auf diese Art und Weise auszusprechen. »Wir werden Sie gegen Morgen wecken.«
»Nur ein paar Stunden«, entgegnete Hester energisch.
»Wecken Sie mich um fünf. Was ist mit Enid?«
»Die konnte ich auch überreden.« Callandra lächelte schwach.
»Und jetzt gehen Sie. Sie können nicht unbegrenzt aufbleiben. Wenn Sie sich nicht ausruhen, nützen Sie uns irgendwann nichts mehr. Das haben Sie mir oft genug gesagt.«
Hester zuckte ein wenig kläglich die Achseln. Es hatte keinen Sinn, die Tatsache zu
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