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Sein Bruder Kain

Sein Bruder Kain

Titel: Sein Bruder Kain Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Antworten schossen ihm durch den Kopf, Antworten, die sie beeindrucken würden und ihn in dem Licht erscheinen ließen, in dem er sich wünschte, daß sie ihn sah. Aber Lügen hatten kurze Beine und er wollte länger mit ihr Zusammensein als nur ein paar Stunden. Alles andere als die Wahrheit würde die Zukunft gefährden.
    »Überhaupt nicht«, entgegnete er. »Seine Frau bat mich, ihr zu helfen. Ich war früher bei der Polizei.«
    »Jetzt nicht mehr?« fragte sie mit ungewöhnlichem Interesse.
    »Warum das? Was tun Sie jetzt?«
    Ein Hansom rollte an ihnen vorbei und ließ Monks Rockschöße flattern; seine Begleiterin zog den Kopf ein und wandte sich kurz ab.
    »Eine grundsätzliche Meinungsverschiedenheit«, antwortete er knapp.
    Sie sah ihn fasziniert an, und ihre Miene spiegelte Belustigung und Ungläubigkeit wider.
    »Bitte, spannen Sie mich nicht so auf die Folter. Worum ging es?« wollte sie wissen.
    »Um die Anklage eines Unschuldigen«, antwortete er.
    »Also, wer hätte das gedacht«, sagte sie leise, und ein Dutzend verschiedener und widersprüchlicher Gefühle zeichneten sich in ihrem Gesicht ab. »Das hat Ihnen zu schaffen gemacht! Und konnte Ihre Kündigung ihn retten?«
    »Nein.«
    Schweigend gingen sie etwa zwanzig Meter weiter. Sie schien tief in Gedanken versunken zu sein. Dann drehte sie sich plötzlich zu ihm um; ihre Augen leuchteten, und ihr Gesichtsausdruck war entspannt.
    »Und was genau tun Sie jetzt, Mr. Monk? Das haben Sie mir noch nicht erzählt. Sie helfen Damen in Not, weil ihre Männer verschwunden sind?« Sie hatte eine sehr schöne und unverwechselbare Stimme.
    »Unter anderem.« Er blieb stehen und zeigte auf das Kaffeehaus, dann ging er voraus und hielt ihr die Tür auf. Im Innern war es warm und ziemlich laut, und man konnte den Duft von frisch gemahlenem Kaffee riechen, die Süße von Schokolade und den dumpfen, penetranten Geruch von feuchten Mänteln, von Wolle, Pelz und nassen Lederstiefeln.
    Sie wurden direkt an einen Tisch geführt. Er fragte sie, was sie trinken wolle, und bestellte daraufhin für sie beide heißen Kaffee. Als er gebracht wurde, nahmen sie das Gespräch wieder auf, obwohl es ihm genügt hätte, sie anzusehen und zu schweigen. Außerdem war er sich der Tatsache bewußt, daß die Gespräche um sie herum leiser geworden waren, und er spürte die bewundernden Blicke der anderen Gäste. Wenn Drusilla das überhaupt bemerkte, war sie so daran gewöhnt, daß es keinerlei Wirkung auf sie hatte. »Das muß eine sehr interessante Beschäftigung sein«, sagte sie, während sie an ihrem Kaffee nippte. »Ich nehme an, Sie lernen alle möglichen Menschen kennen? Natürlich tun Sie das. Was für eine dumme Frage.« Sie nahm noch einen Schluck. »Ich glaube nicht, daß Sie sich an alle erinnern können, wenn ein Fall erst einmal abgeschlossen ist. Für Sie müssen diese Dinge doch wie Bilder einer Laterna magica des Lebens sein, eine Aneinanderreihung von Leidenschaften und Rätseln. Und wenn ein Rätsel gelöst ist, kehren Sie ihm den Rücken zu und nehmen es mit dem nächsten auf.«
    »Ich bin nicht sicher, ob ich das so ausgedrückt hätte«, erwiderte er und lächelte sie über den Rand seiner Tasse hinweg an.
    »Natürlich hätten Sie. Es ist faszinierend und so ganz anders als mein Leben, denn ich habe Jahr für Jahr immer nur mit denselben langweiligen Leuten zu tun. Jetzt erzählen Sie mir doch bitte mehr von diesem Mann, der verschwunden ist. Was für ein Mensch ist er?«
    Durchaus bereitwillig erzählte er ihr alles, was er wußte und was nicht vertraulich war, und nahm mit Vergnügen sowohl ihre Intelligenz als auch den sanften, sorgenfreien Ausdruck ihres Gesichts wahr, als höre sie ihm zwar genau zu, ließe sich aber keineswegs von der Tragödie einer anderen Frau die Freude oder die Ungezwungenheit ihrer Begegnung verderben.
    »Mir scheint«, sagte sie nachdenklich, während sie ihre Tasse leerte, »das erste, was Sie herausfinden müssen, ist, ob er irgendwelche heimlichen Angewohnheiten hatte, sei es eine andere Frau oder sonst irgendein Laster; oder ob er, wie seine Frau befürchtet, seinen Bruder im East End besucht hat und ihm dort etwas zugestoßen ist.«
    »Genau«, stimmte er ihr zu. »Das ist der Grund, warum ich alles daransetze festzustellen, was er in den letzten zwei oder drei Wochen vor seinem Verschwinden unternommen hat.«
    »Daher also auch die Geographische Gesellschaft«, nickte sie.
    »Wo sonst könnten Sie es noch versuchen? Vielleicht

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