Sein Bruder Kain
können, wie wir es gern täten. Hester wird Sie nach Hause bringen.«
»Aber…« Enid schluckte schwer, krümmte sich zusammen und stöhnte auf. »Es tut mir leid… Ich glaube, ich muß mich übergeben.«
Callandra sah Hester direkt in die Augen.
»Holen Sie einen Eimer«, befahl sie. »Und dann sagen Sie Mary Bescheid. Außerdem sollten Sie nach einem Hansom Ausschau halten.«
»Natürlich.« Es gab nichts zu diskutieren, keinen Einwand, den man hätte erheben können. Sie ging aus dem Zimmer und kehrte Sekunden später mit einem Eimer zurück, bevor sie nach Mary zu suchen begann, die am anderen Ende des Raums eine Frau kalt abwusch, die so hohes Fieber hatte, daß sie beinahe empfindungslos war. Die Binsenfackeln an den Wänden ließen dunkle Schatten über das Stroh und die undeutlichen Gestalten der Körper unter den Decken huschen. Es war kein Laut zu hören bis auf das Rascheln der vom Fieber verursachten Zuckungen, das Murmeln und die Schreie der Delirierenden und, wenn man in die Nähe der Fenster kam, natürlich das Trommeln des Regens draußen.
»Ich glaube, es geht ihr ein wenig besser«, sagte Mary hoffnungsvoll, als sie Hester bemerkte.
»Gut.« Hester machte keinen Versuch zu widersprechen.
»Lady Ravensbrook hat jetzt ebenfalls das Fieber. Ich hole einen Hansom, der sie nach Hause bringen kann. Lady Callandra wird hierbleiben, und Dr. Beck wird später am Abend zurückkommen. Sieh zu, ob du etwas mehr Holz auftreiben kannst. Alf meinte, am Hafen gebe es noch etwas verrottetes Bauholz. Es wird wohl naß sein, aber wenn wir es hier drinnen aufbewahren, trocknet es vielleicht ein wenig. Außerdem wird es sicher furchtbar Funken sprühen, aber in den Ofen ist das nicht so schlimm.«
»Ja, Miss. Ich…«
»Was?«
»Das mit Lady Ravensbrook tut mir leid.« Auf Marys Gesicht spiegelte sich ehrliche Sorge wider. Das konnte man selbst in dem diffusen Licht deutlich sehen. »Es ist wirklich eine Schande.« Mary schüttelte den Kopf. »Hätte nicht gedacht, daß eine kräftige Dame wie sie sich anstecken könnte. Passen Sie ja auf sich auf, Miss. An Ihnen ist auch nicht viel dran.« Sie musterte Hesters ziemlich magere Gestalt mit wohlmeinender Aufrichtigkeit. »Sie haben auch nicht viel dagegenzusetzen. Wenn Sie die Hälfte Ihres Gewichts verlieren, bleibt nichts mehr von Ihnen übrig.«
Hester konnte dieser Logik nicht recht zustimmen, aber sie erhob auch keine Einwände. Sie zog ihren Umhang fester um sich und ging die Treppe hinunter und auf die Straße hinaus.
Draußen war es stockdunkel, und der stürmische Wind peitschte den Regen über die Gehsteige. Die einsame Gaslaterne an der Ecke warf ein milchiges Licht durch den Regen, dessen Schein sie zum Park Place führte. Wahrscheinlich würde sie den schmalen Limehouse Causeway hinauf zur West India Dock Road gehen müssen, bevor sie einen Hansom fand. Sie zog ihren Umhang fester um sich und senkte den Kopf, damit der Regen ihr nicht ins Gesicht fiel. Es war weniger als eine halbe Meile.
Sie begegnete einigen Passanten. Es war noch immer früh am Abend, und die Männer kehrten von der Arbeit aus den Fabriken, Hafendocks und Lagerhäusern zurück. Ein oder zwei nickten ihr zu, als ihre Wege sich in dem trüben Licht einer Straßenlaterne kreuzten. Sie war für viele Menschen, die eines der vom Typhus befallenen Opfer kannten oder liebten, eine vertraute Gestalt geworden, aber für die meisten war sie nur eine von vielen grauen Frauengestalten, die sie nicht weiter interessierte.
Die West India Dock Road war belebter. Dort herrschte reger Verkehr von Lastkarren, Rollwagen und mit Ballen beladenen Fuhrwerken, die in Richtung Kai oder Lagerhäuser unterwegs waren, mit Waren, die im Hafen gelöscht worden waren oder am nächsten Morgen verschifft werden sollten, von pferdegezogenen Omnibussen, einem Krankenwagen und allen möglichen Kutschen und Karren von gewöhnlicherer Bauart. Es gab weder Hansoms noch Broughams oder elegante Zweiergespanne.
Es dauerte zehn Minuten, bevor es ihr gelang, einen Hansom zu entdecken, der nach einem Fahrgast Ausschau hielt.
»Ecke Park Street und Gill Street, bitte«, sagte sie.
»Das sind bloß fünf Minuten von hier«, protestierte der Kutscher mit einem Blick auf ihren nassen Umhang, ihre abgetragenen Stiefel und ihr tristes Kleid. »Stimmt was nicht mit Ihren Beinen? Sehen Sie mal, Schätzchen, das ist Ihr Geld nicht wert. Sie können den Weg zu Fuß gehen, und nasser, als Sie schon sind, können Sie dabei
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