Sein Bruder Kain
auch nicht mehr werden!«
»Das weiß ich, vielen Dank.« Sie zwang sich zu einem Lächeln.
»Ich habe eine Freundin dort, die nach Westen will, den ganzen Weg bis nach Mayfair. Dafür brauche ich Sie.«
»Mayfair?« fragte er ungläubig. »Was um alles in der Welt könnte jemand aus Mayfair hier zu suchen haben?«
Sie erwog die Möglichkeit, ihm zu sagen, er solle sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern, entschied sich dann aber schnell dagegen. Sie brauchte ihn unbedingt. Enid war zu krank, um warten zu können, bis sie einen anderen Droschker gefunden hatte, der weniger mißtrauisch und neugierig war.
»Sie wohnt dort. Sie hat uns geholfen, das Fieberhospital aufzubauen!« sagte sie in dem ihr eigenen, äußerst kultivierten Englisch.
»Hat wohl genug von Limehouse, was?« sagte er trocken, aber in seiner Stimme lag keine Unfreundlichkeit mehr. Sie konnte sein Gesicht nicht sehen, da er mit dem Rücken zum Licht saß.
»Für eine Weile«, erwiderte sie. »Sie braucht frische Kleider und etwas Geld.« Das war eine Lüge, aber ihren Zwecken war damit auf jeden Fall besser gedient. Wenn sie ihm die Wahrheit sagte, gab er seinem Pferd vielleicht die Peitsche, und sie würde ihn nie wieder sehen.
»Steigen Sie ein!« sagte er leutselig. »Sie kletterte in die Droschke, ohne ihre nassen Röcke zu beachten, die ihr gegen die Knöchel klatschten; sie hatte kaum Platz genommen, als die Kutsche sich mit einem Ruck in Bewegung setzte.
Wie er gesagt hatte, dauerte es keine fünf Minuten, bis sie vor dem Fieberkrankenhaus standen. Sie ging hinein, um Enid zu holen, die mittlerweile so benommen und schwach war, daß sie nicht mehr ohne Hilfe gehen konnte. Hester und Callandra mußten sie auf beiden Seiten stützen, und Hester dankte Gott mit einem stillen Gebet, daß die Straßenlaterne nicht direkt neben dem Haus stand und der Droschker nur die schwankenden Gestalten von drei Frauen erkennen konnte und nichts davon bemerkte, wie geisterhaft die Frau in der Mitte aussah mit ihrem aschfahlen Gesicht, den halbgeschlossenen Augen und der schweißnassen Haut.
Er betrachtete sie neugierig durch die Finsternis und schnaubte leise. Er hatte schon früher feine Leute betrunken gesehen, aber der Anblick einer betrunkenen Frau machte ihm immer besonders zu schaffen. Irgendwie war es schlimmer als bei einem Mann, und es ließen sich kaum die gleichen Entschuldigungen dafür finden. Andererseits, wenn sie Geld für die Kranken gab, wollte er sich mit seinem Urteil zurückhalten… ausnahmsweise.
»Steigen Sie ein!« forderte er sie auf und beruhigte sein Pferd, das die Angst witterte, den Kopf hochwarf und einen Schritt zur Seite machen wollte. »Stillgestanden!« befahl er und zog die Zügel fester. »Na komm schon!« Dann wandte er sich wieder an seine Fahrgäste. »Ich fahre Sie nach Hause.«
Die Fahrt war ein Alptraum. Als sie das Ravensbrooksche Haus erreicht hatten, war Enid abwechselnd heiß und kalt, und sie schien außerstande, ihren heftig zitternden Körper unter Kontrolle zu halten; ihr Geist irrte umher, als befände sie sich in einem Zustand zwischen Wachen und Träumen.
Sobald sie vorgefahren waren, riß Hester die Tür auf und stürzte fast auf den Gehsteig. Dann rief sie dem Droschker zu, daß er genau dort warten sollte, wo er stand. Nachdem sie die Stufen zum Haus hinaufgeeilt war, zog sie heftig am Klingelzug, dann noch einmal und schließlich ein drittesmal.
Ein Lakai öffnete die Tür; seine starre Miene verriet Zorn und Mißbilligung. Als er eine bleiche, durchnäßte junge Frau mit wilden Augen und ohne Hut vor sich sah, kannte seine Wut keine Grenzen. Er war gut einsachtzig groß, wie man es bei einem Lakaien erwarten durfte, und verfügte über wohlgeformte Beine und einen geziemend hochmütigen Mund.
»Lady Ravensbrook sitzt in diesem Hansom und ist furchtbar krank!« sagte Hester barsch. »Würden Sie mir bitte helfen, sie ins Haus zu tragen und dann nach ihrer Zofe zu schicken und nach allen anderen, die gebraucht werden, damit sie es bequem hat.«
»Und wer bitte sind Sie, wenn ich fragen darf?« Er zeigte zwar Reaktion, ließ sich aber so leicht von niemandem überrumpeln.
»Hester Latterly«, antwortete sie schroff. »Ich bin Krankenschwester. Lady Ravensbrook ist sehr krank. Würden Sie sich bitte beeilen, statt hier wie eine Salzsäule in der Tür zu stehen!«
Er wußte, wo sie gewesen war und warum. Offensichtlich lagen ihm noch andere Einwände auf der Zunge.
»Sind Sie
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