Sein Bruder Kain
hingegangen ist.« Enid starrte sie an. Sie sah sehr bleich aus; nur auf ihren Wangen brannten rote Flecken. Sie war erschöpft. Sie war seit zwei Tagen nicht mehr zu Hause gewesen und hatte nur, wann immer sich die Gelegenheit bot, ein wenig auf dem Fußboden in diesem Raum geschlafen. »Er ist vor über zwei Stunden fortgegangen«, fügte sie hinzu. »Ich habe ihn gebeten, den Leichenbestatter aufzusuchen, aber ich glaube nicht, daß er mich gehört hat.«
Hester sah Callandra an.
»Es müssen so viele Beerdigungen sein«, fuhr Enid fort; sie sprach mehr zu sich selbst als zu den beiden anderen. Ihr Gesicht war sehr blaß, und auf Stirn und Unterlippe schimmerte eine dünne Schweißschicht. Sie blickte auf. »Wissen Sie, auf welchen Friedhof man die Toten bringt?« Sie wandte sich an Callandra.
»Nein, ich weiß es nicht«, erwiderte Callandra leise.
»Ich werde es herausfinden.« Enid seufzte und fuhr sich mit der Hand über die Stirn.
»Das spielt doch keine Rolle!« Callandra sah an ihr vorbei zu Hester hinüber.
»Und ob es das tut«, beharrte Enid. »Die Leute könnten fragen, Verwandte vielleicht.«
»Die Toten werden jetzt nicht mehr einzeln begraben.« Hester gab die Antwort, vor der Callandra zurückgeschreckt war.
»Was?« Enid fuhr herum. Bis auf die Fieberflecken auf ihren Wangen war alle Farbe aus ihrem Gesicht gewichen, und ihre Augen waren hohl, als hätte man sie geschlagen.
»Sie kommen in Gemeinschaftsgräber«, erklärte Hester ruhig.
»Grämen Sie sich deswegen nicht.« Sie streckte die Hand aus und berührte Enid ganz sanft am Arm. Die Kerze auf dem Tisch flackerte, erlosch beinahe und brannte dann mit neuer Kraft weiter. »Den Toten ist es egal.«
»Aber was ist mit den Lebenden?« protestierte Enid. »Was ist, wenn all das vorüber ist und die Menschen trauern wollen, wenn sie einen Ort brauchen, an dem sie sich an die, die sie verloren haben, erinnern können?«
»Es wird keinen geben«, antwortete Hester. »So ist es im Krieg auch. Das einzige, was man der Familie eines Soldaten sagen kann, ist, daß er dem Tod tapfer ins Auge gesehen hat und, wenn er in einem Krankenhaus gestorben ist, daß jemand da war, der sich um ihn gekümmert hat. Mehr kann man nicht tun.«
»O doch«, schaltete Callandra sich schnell ein. »Man kann ihnen sagen, daß er nicht ohne Grund gestorben ist, daß er seinem Land gedient hat. Hier kann man nur sagen, daß die Leute gestorben sind, weil der verfluchte Gemeinderat keine Abwasserkanäle bauen wollte und die Leute zu arm waren, um es selbst zu tun. Das wird kaum jemanden trösten.« Sie sah Enid an und runzelte die Stirn. »Die Leute sind auch deshalb gestorben, weil sie halb verhungert waren und den ganzen Winter frieren mußten, und die Hälfte von ihnen hat Rachitis oder Tuberkulose oder leidet unter den Folgen irgendeiner anderen Kinderkrankheit. Aber man kann kaum auf einen Grabstein schreiben, selbst wenn man einen hätte, daß die Menschen daran gestorben sind, daß sie in der falschen Zeit und am falschen Ort geboren wurden. Ist alles in Ordnung mit Ihnen? Sie sehen nicht gut aus.«
»Ich habe Kopfschmerzen«, gestand Enid. »Ich dachte, ich wäre nur müde, aber ich fühle mich jetzt, nachdem ich mich hingesetzt habe, noch schlechter als zuvor. Ich dachte, mir sei heiß, aber vielleicht friere ich auch. Es tut mir leid - das klingt alles so lächerlich…«
Hester stand auf und ging durch den Raum zu Enid hinüber, beugte sich über sie und sah ihr forschend ins Gesicht, in die Augen. Dann legte sie ihr die Hand auf die Stirn. Sie war glühend heiß.
»Ist es…?« wisperte Enid; die Frage war zu entsetzlich, um sie auszusprechen.
Hester nickte. »Kommen Sie. Ich bringe Sie nach Hause.«
»Aber…«, begann Enid, bis sie begriff, daß es sinnlos war. Mit größter Mühe erhob sie sich von ihrem Stuhl, schwankte und sackte in sich zusammen. Hester und Callandra konnten sie gerade rechtzeitig auffangen, um sie wieder auf den Stuhl hinuntersinken zu lassen.
»Sie müssen nach Hause fahren«, sagte Callandra mit fester Stimme. »Wir kommen hier schon zurecht.«
»Aber ich kann nicht einfach so weggehen!« wandte Enid ein.
»Es ist soviel zu tun! Ich…«
»O doch, das können Sie.« Callandra zwang sich zu einem Lächeln, in dem Müdigkeit, Geduld und tiefer Kummer lagen.
Sie berührte Enid ganz sanft, aber ohne auch nur einen Anflug von Unentschlossenheit. »Sie werden uns hier nur ablenken, weil wir uns nicht so um Sie kümmern
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