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Sein Bruder Kain

Sein Bruder Kain

Titel: Sein Bruder Kain Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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etwas in der Art einfiele, könnte uns das vielleicht weiterhelfen.«
    »Nein«, sagte sie mit einem leichten Stirnrunzeln, als verwundere dieser Umstand sie bei näherem Nachdenken ebenfalls. »Er hat überhaupt nie davon gesprochen. Möglicherweise war es gerade sein Schweigen, das mich auf die Frage gebracht hat, ob er seinen Bruder nicht ebensosehr aus Schuldgefühlen heraus wie aus Liebe besuchte.«
    »Schuldgefühle?«
    In ihrem Gesicht flackerte so etwas wie Stolz auf, als sie antwortete, und sie hob unbewußt ganz leicht das Kinn an.
    »Angus war bei allem, was er anfaßte, erfolgreich, in seinem Beruf, mit seiner Familie und was seine Stellung in der Gesellschaft betraf. Caleb hatte nichts. Er war gefürchtet und verhaßt, wo Angus geliebt und respektiert wurde. Er lebte von der Hand in den Mund und wußte nie, woher die nächste Mahlzeit kommen würde. Er hatte kein Heim, keine Familie, nichts in seinem ganzen Leben, auf das er hätte stolz sein können.«
    Es war ein trauriges Bild, das sie da malte. Monk begriff mit einem Schlag, gerade so, als hätte er eine Tür, die in eine andere, eisigere Welt führte, geöffnet, in welcher Einsamkeit Caleb Stone lebte, wie sehr sein Scheitern sich in seine Seele hineingefressen haben mußte, immer wenn er seinen Bruder sah, das glückliche, elegante, erfolgreiche Spiegelbild des Menschen, der er selbst hätte sein können. Und Angus' Mitleid und seine Schuldgefühle hatten das Ganze nur noch schlimmer gemacht.
    Und doch lag vielleicht auch für Angus in der Erinnerung an die Liebe und das Vertrauen, an die Zeiten, in denen alle Dinge gleich waren für sie, und an die Zerwürfnisse und Kümmernisse einer noch unbekannten Zukunft etwas, das sie aneinander band.
    Warum sollte das Ganze jetzt in Gewalttätigkeit münden? Was war geschehen, daß sich alles plötzlich verändert hatte? Er sah Genevieve an. Die Anspannung stand ihr nun deutlich ins Gesicht geschrieben. Um ihre Augen und ihren Mund zeichneten sich winzige Linien ab, die man selbst im Gaslicht sehen konnte. Angus war seit vierzehn Tagen fort. Sie verbrachte zumindest die Hälfte ihrer Zeit mit der Pflege von Enid Ravensbrook. Kein Wunder, daß sie erschöpft und von Angst erfüllt war.
    »Haben Sie jemanden im Sinn, dem Sie in Abwesenheit von Mr. Stonefield die Leitung des Geschäfts übertragen könnten?« fragte er. Es war kaum von Bedeutung für ihn, und doch wartete er auf eine Antwort und wünschte sich, daß sie keine hätte. Solche Überlegungen waren ihm bei einer Frau, die noch nicht sicher wußte, ob sie Witwe war, seltsam kalt und nüchtern erschienen.
    »Ich habe an Mr. Niven gedacht«, antwortete sie offen. »Trotz seiner Fehleinschätzung, die schuld an seinen augenblicklichen Verhältnissen ist, ist er durch und durch ehrlich und verfügt über ungewöhnliche Fähigkeiten und großes Wissen auf diesem Gebiet. Ich glaube, er wäre, wenn es um die Angelegenheiten eines anderen geht, nicht so unbesonnen oder so nachsichtig. Mr. Arbuthnot hat immer viel von ihm gehalten und wäre vielleicht nicht abgeneigt, auch unter Mr. Nivens Leitung weiter für uns tätig zu sein. Mr. Niven ist außerdem ein sehr liebenswürdiger Mensch, und ich könnte es ertragen, ihn an Angus' Stelle zu sehen, da ja irgend jemand sich um diese Dinge kümmern muß. Er hat selbst keine Familie und würde nicht versuchen, mich oder meine Söhne aus dem Geschäft zu drängen.«
    Es hätte ihm eigentlich gleichgültig sein können, und doch stellte er fest, daß die Promptheit, mit der sie antwortete, ihn frösteln ließ.
    »Ich wußte gar nicht, daß Sie ihn persönlich kennen«, sagte er.
    »Aber natürlich. Er und Angus standen sehr freundschaftlich zueinander. Er hat viele Male bei uns zu Abend gespeist, er ist einer der wenigen Menschen, die wir zu uns nach Hause einladen.« Wieder huschte ein Schatten über ihre Züge. »Aber ich kann mich ihm jetzt natürlich nicht nähern. Das wäre gänzlich unpassend. Erst muß ich einen Beweis für Angus' Schicksal haben, der das Gesetz zufriedenstellt.« Sie saß sehr gerade auf ihrem Stuhl und seufzte, als könne sie sich nur mit großer Anstrengung beherrschen.
    Er fragte sich, welches Gefühl genau es war, das so stark unter der Oberfläche ihrer Gefaßtheit lag. Er spürte eine Kraft in ihr, die nicht so recht zu ihrem sanften, sehr femininen Äußeren passen wollte, zu diesem Bild der gehorsamen Ehefrau und hingebungsvollen Mutter; es gab Tiefen in ihrem Wesen, die nicht

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