Sein Bruder Kain
am späten Nachmittag nach Hause zurückkehrten, kaum hören. Wagenlampen hingen wie am Himmel schwebende Monde in den Nebelschwaden. Selbst dem Klang der Pferdehufe auf dem Kopfsteinpflaster fehlte die gewohnte Schärfe.
Es gab so vieles, was er über sich selbst nicht wußte. Aber zumindest seit dem Unfall hatte er in keinem seiner wirklich wichtigen Fälle eine Niederlage erlitten. Von der Zeit vor dem Unfall wußte er nur das, was er in seinen eigenen Notizen in den Polizeiakten gelesen hatte.
Aber jeder Fall, über den er dort las, zeigte einen Mann von erbarmungsloser Hartnäckigkeit, weitreichender Phantasie und einer großen Leidenschaft für die Wahrheit. Er hatte schon früher mit so schwierigen und gewalttätigen Gegnern wie Caleb Stone zu tun gehabt, und keiner hatte ihn je geschlagen.
Er ging anderthalb Meilen über die West India Dock Road, bis er endlich einen Hansom fand, von dem er sich in die Fitzroy Street bringen lassen konnte. Er erwartete Genevieve Stonefield. Er hatte ihr einen Bericht über seine Nachforschungen versprochen und mußte dort sein, wenn sie kam. Er lehnte sich in das Sitzpolster zurück und schloß während der langen, gemächlichen Fahrt die Augen. Um diese Zeit und bei diesem Wetter würde es mehr als eine Stunde dauern, auch nur bis Bloomsbury zu kommen.
Nachdem er sich umgezogen und eine Tasse heißen Tee getrunken hatte, traf Genevieve Stonefield ein.
»Treten Sie ein, Mrs. Stonefield.« Er schloß die Tür hinter ihr und nahm ihr den nassen Umhang und die Haube ab. Sie sah sehr müde aus. In ihrem Gesicht zeichneten sich feine Linien ab, die er wenige Tage zuvor noch nicht dort entdeckt hatte.
»Vielen Dank«, sagte sie, während sie widerwillig Platz nahm und sich nur auf die Stuhlkante setzte, als könne es sie noch verletzlicher machen, wenn sie sich in irgendeiner Hinsicht gehenließ.
»Wie geht es Lady Ravensbrook?« fragte er.
»Sie ist sehr krank«, antwortete sie, und ihre Augen waren dunkel vor Erschöpfung und Kummer. »Sehr krank. Wir wissen nicht, ob sie überleben wird. Miss Latterly tut alles für sie, was in ihren Kräften steht, aber es ist vielleicht nicht genug. Mr. Monk, haben Sie etwas über meinen Mann herausgefunden? Meine Situation wird immer verzweifelter.«
»Das mit Lady Ravensbrook tut mir sehr leid«, sagte Monk leise und meinte es auch so. Er mochte sie, auch wenn er ihr nur ganz kurz begegnet war. Ihr Gesicht hatte Mut und Intelligenz verraten. Der Gedanke, daß sie nun vielleicht ein so sinnloses Ende finden würde, schmerzte ihn. Er sah Genevieve an. Wieviel schlimmer mußte sie dieses Gefühl der Hilflosigkeit und des Verlustes treffen. Sie saß starr auf der Stuhlkante und wartete mit ernster Miene darauf, daß er ihre Fragen beantwortete.
»Ich fürchte, es sieht immer mehr danach aus, als hätten Sie tatsächlich recht«, sagte er. »Ich wünschte, ich könnte Ihnen etwas Erfreulicheres mitteilen, aber ich habe seinen Weg am Tag seines Verschwindens bis nach Limehouse zurückverfolgen können, und es scheint kein Zweifel daran zu bestehen, daß er Caleb besucht hat, wie schon so häufig in der Vergangenheit.«
Sie biß sich auf die Lippen, und ihre Hände verkrampften sich auf ihrem Schoß, aber sie unterbrach ihn nicht.
»Ich suche selbstverständlich weiter, aber ich habe noch niemanden gefunden, der ihn seither gesehen hat«, fuhr er fort.
»Aber Mr. Monk, was ich brauche, ist ein Beweis!« Sie holte tief Luft. »In meinem Herzen weiß ich, was geschehen ist. Ich habe es gewußt, seit er nicht zur verabredeten Zeit nach Hause gekommen ist. Ich habe so etwas schon lange befürchtet, konnte ihn aber nicht davon abbringen. Aber das werden die Behörden nicht akzeptieren!« Die Verzweiflung ließ ihre Stimme lauter werden, als hätte sie das Gefühl, sich nicht verständlich machen zu können. »Ohne Beweis bin ich einfach nur eine sitzengelassene Frau, und Gott weiß, daß London voll davon ist.« Sie schüttelte verzagt den Kopf. »Ich kann keinerlei Entscheidungen treffen. Ich kann keinen Besitz entäußern, denn solange das Gesetz davon ausgeht, daß er noch lebt, gehört alles ihm und nicht mir oder meinen Kindern. Wir können nicht einmal jemanden einstellen, der das Geschäft für ihn führt. Und so gern Mr. Arbuthnot auch dazu bereit ist, hat er weder das nötige Selbstvertrauen noch die Erfahrung, um diese Dinge in die Hand zu nehmen. Mr. Monk, ich brauche einen Beweis!«
Er betrachtete ihr ernstes, gepeinigtes
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