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Sein Bruder Kain

Sein Bruder Kain

Titel: Sein Bruder Kain Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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auszuloten waren. Das bekümmerte ihn, denn ihm gefiel, was er zuerst in ihr gesehen hatte; selbst die Kraft, die in ihr ruhte, war reizvoll. Er wollte nicht glauben, daß sich dahinter in Wirklichkeit Skrupellosigkeit verbarg. »Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, Mrs. Stonefield«, versprach er und schuf mit seinem Tonfall unbeabsichtigt eine gewisse Distanz zwischen ihnen. »Wie Sie selbst vorgeschlagen haben, werde ich meine Bemühungen darauf konzentrieren, die Behörden davon zu überzeugen, daß Ihr Mann tot ist, und es anderen überlassen herauszufinden, unter welchen Umständen er gestorben ist. Diese Aufgabe ist jedoch nicht leicht, und es könnte durchaus eine ganze Weile dauern, daher gebe ich Ihnen den Rat, in der Zwischenzeit darüber nachzudenken, ob Sie nicht doch Lord Ravensbrooks Angebot annehmen wollen, um für sich und Ihre Kinder ein Heim zu haben, auch wenn es nur vorübergehend wäre.«
    Sie spürte, in welche Richtung seine Gedanken gingen, und erhob sich anmutig, legte sich mit einer flinken Bewegung den Umhang um die Schultern, aber in ihrem Gesicht zeichneten sich Unwille, Eigensinn und Widerstreben ab.
    »Das wird mein letzter Ausweg sein, Mr. Monk, und an diesem Punkt bin ich noch nicht angelangt. Ich denke, ich werde mit Mr. Niven sprechen und seine Gefühle diesbezüglich ergründen, bevor ich zu Lady Ravensbrook zurückkehre. Ich wünsche Ihnen noch einen angenehmen Tag.«
    Für Hester vergingen die nächsten Stunden mit quälender Langsamkeit. Sie saß an Enids Bett und beobachtete deren ausgezehrtes Gesicht, das fahl und schweißnaß war und auf den Wangenknochen zwei Flecken hektischer Röte aufwies. Ihr Haar war wirr, ihr Körper verkrampft, und sie warf sich zitternd und von Schmerzen gepeinigt im Bett von einer Seite zur anderen. Jede Berührung tat ihr weh. Hester konnte kaum etwas für sie tun, abgesehen davon, daß sie sie immer wieder vorsichtig mit feuchten, kühlen Tüchern abtupfte, aber das Fieber stieg weiter an. Sie lag im Delirium und wußte kaum je wirklich, wo sie war.
    Genevieve kehrte irgendwann am Abend zurück und kam für ein paar Minuten ins Krankenzimmer. Sie war erst wieder am Morgen an der Reihe, wenn Hester für ein paar Stunden Schlaf ins Ankleidezimmer gehen würde.
    Sie tauschten wissende Blicke. Genevieves Wangen waren gerötet. Hester führte diesen Umstand auf die Kälte draußen zurück, bis die andere Frau zu sprechen begann.
    »Ich komme gerade von Mr. Monk. Ich fürchte, er begreift nicht, wie ungeheuer wichtig es für mich ist zu wissen, was mit Angus passiert ist.« Sie blieb an der Tür stehen und sprach sehr leise, damit sie Enid nicht störte. »Manchmal glaube ich, die Ungewißheit ist mehr, als ich ertragen kann. Dann habe ich Mr. Niven aufgesucht - Titus Niven -, er war früher sehr erfolgreich in derselben Branche tätig wie mein Mann, bis vor kurzem jedenfalls. Er ist ein Freund.«
    Obwohl sie so leise gesprochen hatte, bewegte Enid sich und versuchte sich aufzusetzen. Hester drückte sie schnell wieder in ihre Kissen zurück, strich ihr das Haar aus der Stirn und sprach sanft auf sie ein, obwohl sie nicht genau wußte, ob Enid sie hörte.
    Genevieve sah Hester mit vor Furcht starrer Miene an. Ihre Frage war ihr so klar ins Gesicht geschrieben, daß sie nicht ausgesprochen werden mußte. Sie fürchtete, daß die Krise nicht mehr lange auf sich warten lassen und Enid die Nacht nicht überleben würde.
    Hester hatte keine Antwort für sie. Alles, was sie sagen konnte, wäre nur eine vage Vermutung gewesen.
    Langsam atmete Genevieve aus. Ein winziges Lächeln spielte um ihren Mund, aber es durchdrang nur für einen Augenblick einem Augenblick der Nähe - ihren Schmerz, es lag kein Glück darin. Welchen Trost Titus Niven ihr auch zu geben vermocht hatte, welchen Lichtstrahl er in der Finsternis vielleicht hatte aufscheinen lassen, er war wieder erloschen. Selbst die Sanftheit, mit der sie seinen Namen ausgesprochen hatte, schien vergessen zu sein.
    »Es hat keinen Sinn, wenn Sie hierbleiben«, erklärte Hester ihr offen. »Es könnte heute nacht geschehen, es könnte aber auch bis morgen dauern. Es gibt nichts, was Sie tun können, außer sich darauf vorzubereiten, mich morgen früh abzulösen.« Sie versuchte zu lächeln, aber es gelang ihr nicht.
    »Das werde ich tun«, versprach Genevieve, berührte Hester ganz leicht an der Schulter, wandte sich dann ab und ging aus dem Raum, wobei sie die Tür mit einem kaum hörbaren Klicken

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