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Sein Bruder Kain

Sein Bruder Kain

Titel: Sein Bruder Kain Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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hinter sich schloß.
    Es war früher Abend und bereits dunkel, Regen klatschte gegen die Fenster hinter den dicken, zugezogenen Vorhängen. Die Uhr auf dem Kaminsims war das einzige Geräusch, abgesehen von dem leisen Zischen des Gases und einem gelegentlichen Stöhnen oder Wimmern Enids. Kurz nach halb acht klopfte Lord Ravensbrook an die Tür und trat sofort ein. Er sah angegriffen aus, und ganz hinten in seinen Augen flackerte eine Furcht auf, die er nur unzulänglich hinter seinem Stolz verbergen konnte.
    »Wie geht es ihr?« fragte er. Vielleicht war es eine sinnlose Frage, aber ihm fiel nichts anderes ein, und schließlich erwartete man es von ihm. Er mußte irgend etwas sagen.
    »Ich glaube, heute nacht könnte die Krise kommen«, antwortete sie. Sie sah, wie es in seinem Gesicht zuckte, so, als hätte sie ihn geschlagen. Einen Augenblick lang bedauerte sie, daß sie so direkt gewesen war. Vielleicht war es brutal. Aber was wäre, wenn Enid heute nacht starb und sie es ihm nicht gesagt hatte? Er konnte nichts für sie tun, aber hinterher würde sich in seinen Kummer auch das Gefühl von Schuld einschleichen. Sie hätte ihn dann wie ein Kind behandelt, das die Wahrheit nicht ertragen konnte, es nicht wert war, sie zu erfahren. Die Heilung seines Schmerzes würde um so schwerer werden und vielleicht nie ganz gelingen.
    »Ich verstehe.« Er stand ganz still in der Mitte des Raums mit seinen Schatten, seinen Blumenmustern, seiner weiblichen Atmosphäre; seine Unfähigkeit zu sprechen machte ihn einsam, und die gesellschaftlichen Konventionen zwangen sie beide, sich an ihre jeweiligen Rollen zu halten. Er war Mitglied des Oberhauses, ein Mann, von dem man erwartete, daß er sowohl in körperlicher wie auch in seelischer Hinsicht Tapferkeit bewies und stets ganz Herr seiner selbst und seiner Gefühle war. Sie war eine Frau, galt daher von Natur aus als die Schwächere, von der man erwartete, daß sie weinte und sich auf andere stützte - und vor allem anderen war sie eine Angestellte. Die Tatsache, daß er sie nicht bezahlte, spielte keine Rolle. Er konnte die Kluft zwischen ihnen genausowenig überwinden wie sie. Sehr wahrscheinlich war ihm ein solcher Gedanke noch niemals gekommen. Er stand einfach reglos da und litt.
    Als er sich langsam umwandte, waren seine Augen sehr dunkel, beinahe verschleiert, als könne er seinen Blick auf nichts Bestimmtes konzentrieren. Er holte tief Luft.
    »Sie meinen, ob ich gern hier sein möchte, wenn es zu Ende geht? Ja… ja, natürlich möchte ich das. Sie müssen mich rufen lassen.« Er hielt inne, weil er nicht wußte, ob er den Vorschlag machen sollte, gleich hierzubleiben. Er blickte zum Bett hinüber. Es war erst vor zwei Stunden frisch bezogen worden, aber schon jetzt wieder völlig zerknittert, obwohl Hester die Laken beständig glattgezogen hatte. Er sog scharf die Luft ein.
    »Weiß… weiß sie, daß ich hier bin?«
    »Das kann ich nicht sagen«, antwortete Hester wahrheitsgemäß. »Selbst wenn man den Eindruck hat, daß sie es nicht weiß, könnte das durchaus ein Irrtum sein. Bitte, glauben Sie nicht, daß es nutzlos wäre. Vielleicht würde es sie trösten.«
    Er ballte die Hände zu Fäusten. »Soll ich bleiben?« Er machte keinen Schritt auf das Bett zu, sondern sah nur Hester an.
    »Das ist nicht nötig«, sagte sie mit fester Stimme. »Es ist besser, Sie ruhen sich aus, damit Sie die Kraft haben, wenn Sie sie brauchen.«
    Er atmete ganz langsam aus. »Sie werden mich rufen lassen?«
    »Ja, sobald irgendeine Veränderung eintritt; das verspreche ich Ihnen.« Sie zeigte mit dem Kopf auf die Klingelschnur neben dem Bett. »Solange irgend jemand wach ist, der Sie holen kann, wird man Sie sofort benachrichtigen.«
    »Vielen Dank. Ich bin Ihnen sehr verpflichtet, Miss… Latterly.« Er ging zur Tür und drehte sich dort noch einmal um.
    »Sie… Sie leisten großartige Arbeit.« Und bevor sie Zeit hatte, etwas zu erwidern, war er schon fort.
    Etwa zwanzig Minuten später verschlimmerte sich Enids Zustand. Sie warf sich im Bett hin und her und schrie vor Schmerzen.
    Hester legte eine Hand auf ihre Stirn. Sie war glühend heiß, noch heißer als zuvor. Ihre Augen waren geöffnet, aber sie schien sich des Raums, in dem sie lag, nicht bewußt zu sein, sondern starrte an Hester vorbei, als stünde jemand hinter ihr.
    »Gerald?« fragte sie rauh, »… nicht hier.« Sie keuchte und war einen Augenblick lang still. »Du brauchst wirklich nicht zu kommen - Papa wird…« Sie

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