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Sein Bruder Kain

Sein Bruder Kain

Titel: Sein Bruder Kain Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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einen von Tausenden, die von Abfällen lebten und in Hauseingängen schliefen. Das Armenhaus versorgte sie mit einem Minimum an Nahrung und einem Dach über dem Kopf, aber nur mit wenig Wärme, und die strengen Regeln dort waren fast so hart wie im Gefängnis. Manche glaubten sogar, schlimmer als dort.
    Niemand hatte mehr als einen flüchtigen Blick für ihn, und er widerstand der Versuchung, ihnen in die Augen zu blicken. Er versuchte sich den Anschein eines Bettlers zu geben, denn arme Leute senkten den Blick, denn sie schämten sich.
    Kurz nach Mittag sah er eine Frau, die sich von der Westferry Road näherte, dort, wo die Bridge Street der Flußbiegung folgte, die der Isle of Dogs ihre Form gab. Sie war von durchschnittlicher Größe, hielt aber den Kopf hoch erhoben und hatte einen wiegenden Gang. Selbst aus einiger Entfernung konnte er ihre ausgeprägten Gesichtszüge erkennen. Ihre Wangenknochen waren hoch und ließen ihre Augen ein wenig schräg erscheinen, ihre Nase war wohlgeformt, wenn auch ein wenig spitz, und ihr Mund verriet eine gewisse Großzügigkeit. Er zweifelte nicht daran, daß es Selina war. Ihr Gesicht hatte genug Mut und Ausdrucksstärke, um Männer wie Caleb Stone anzuziehen, die mittlerweile vielleicht gewalttätig und heruntergekommen sein mochten, aber für bessere Dinge geboren waren.
    Er verließ seinen Warteposten; seine Beine schmerzten, und die Gelenke waren steif vom langen Stillstehen. Beinahe wäre er von der Bordsteinkante abgeglitten; seine Füße waren so kalt, daß er kein Gefühl mehr in ihnen hatte. Vorsichtig ging er quer durch den Schmutz über die Straße und konnte sein Gleichgewicht nur bewahren, indem er mit den Armen ruderte.
    Als er sie, gerade als sie die Treppe hinunterging, endlich einholte, war er maßlos wütend auf sich selbst.
    Als er nur noch einen Meter von ihr entfernt war, fuhr sie mit einem Messer in der Hand zu ihm herum.
    »Passen Sie bloß auf, Mister!« warnte sie ihn. »Versuchen Sie irgendwas, schneid' ich Ihnen die Kehle durch. Ich warne Sie!«
    Monk wich nicht von der Stelle, obwohl sie ihn tatsächlich überrascht hatte. Wenn er sich jetzt einschüchtern ließe, würde er nichts von ihr erfahren.
    »Ich brauche mir keine Frau zu kaufen«, sagte er mit verkniffenem Lächeln. »Und ich habe noch nie eine genommen, die nicht willig gewesen wäre. Ich will mit Ihnen reden.«
    »Ach ja?« Die Ungläubigkeit stand ihr ins Gesicht geschrieben, und doch sah sie ihn nun direkt an. Hinter ihren dunklen Augen lauerte kein gebrochener Geist, und ihre Furcht war rein physischer Natur.
    »Ich komme von Ihrer Schwägerin.«
    »Na, das war' mal was Neues.« Sie hob belustigt ihre schön geschwungenen Augenbrauen. »Ich habe keine Schwägerin, also muß das eine Lüge sein. Versuchen Sie's lieber noch mal.«
    »Ich wollte nur höflich sein«, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen. »Ihnen zuliebe. Sie ist jedenfalls mit Angus verheiratet. Ich dachte, es wäre immerhin möglich, daß Sie mit Caleb verheiratet sein könnten.«
    Ihr Körper straffte sich. Ihre schlanken Hände umklammerten das verwitterte Geländer, bis die Knöchel weiß hervortraten. Aber ihr Gesicht verriet kaum eine Regung.
    »So, dachten Sie. Und was ist, wenn ich's nicht bin? Wer sind Sie eigentlich?«
    »Ich habe Ihnen doch gesagt, ich komme von Angus' Frau.«
    »Das tun Sie nicht.« Sie sah ihn mit grenzenloser Verachtung von oben bis unten an. »Sie würde Sie nicht mal ins Haus lassen! Sie würde die Bullen rufen, wenn so was wie Sie sie auch nur ansprechen würde, außer vielleicht, um sie um einen halben Penny anzubetteln.«
    Monk fuhr sehr bedächtig und mit seiner kultiviertesten Ausdrucksweise fort: »Und wenn ich in meiner gewohnten Aufmachung hierhergekommen wäre, hätte ich genausoviel Aufmerksamkeit erregt wie jemand, der sich in diesen Kleidern der Königin präsentiert. Junge Damen pflegen bei solchen Gelegenheiten Weiß zu tragen«, fügte er hinzu.
    »Und Sie werden natürlich zu solchen Sachen eingeladen, na klar. Sie müssen's ja wissen!« sagte sie sarkastisch, aber ihre Augen forschten doch in seinen Zügen, und die Ungläubigkeit geriet ins Wanken.
    Er streckte eine saubere Hand mit schmalen Fingern und tadellos gepflegten Nägeln aus und umfaßte das Geländer direkt neben ihrer Hand, ohne sie jedoch zu berühren.
    Sie betrachtete seine Hand einen Augenblick lang und hob dann wieder den Blick, um ihm ins Gesicht zu sehen. »Was wollen Sie?« fragte sie

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