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Sein Bruder Kain

Sein Bruder Kain

Titel: Sein Bruder Kain Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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nicht den geringsten Erfolg. Selbst die kritischsten Zungen in der Nachbarschaft wußten nichts anderes zu berichten, als daß Genevieve genauso respektabel war wie ihr Mann, eine tugendhafte Frau, in jeder Hinsicht so tugendhaft, daß es schon fast an Langweiligkeit grenzte. Wenn sie irgendwelche Untugenden besaß, dann waren es Vorsicht im Umgang mit Geld, dem sie eine außerordentliche Bedeutung beimaß, und ein Sinn für Humor. Sie stand in dem Ruf, häufiger zu lachen, als es sich ziemte, und bei den unpassendsten Gelegenheiten.
    Titus Niven war ein Freund der Familie, und das galt für Angus genauso wie für sie. Und nein, niemand konnte sich einer Gelegenheit entsinnen, daß er sie besucht hatte, ohne daß Angus anwesend war.
    Wenn es eine heimliche Beziehung zwischen den beiden gab, dann hatten sie diesen Umstand außerordentlich geschickt verborgen. Titus Niven hatte Grund, Angus Stonefield zu beneiden, sowohl in beruflicher wie in privater Hinsicht; vielleicht hatte er sogar Grund, ihn zu hassen, aber dafür gab es keinerlei Beweise.
    Am frühen Nachmittag fuhr Monk wieder ins East End, nach Limehouse und zu dem notdürftig eingerichteten Typhushospital, um Callandra Daviot zu sprechen. Er wollte aus mehreren Gründen mit ihr reden, aber an erster Stelle stand die finanzielle Frage. Es war offensichtlich, daß Genevieve, wenn Lord Ravensbrook ihr seine Unterstützung entzog, ihn nicht mehr lange bezahlen konnte, und es war in moralischer Hinsicht indiskutabel, daß er Geld von ihr nahm. Die Hoffnung, daß er vielleicht doch noch irgendwelche Beweise fand, war gering. Und doch war er fest entschlossen, dem Fall bis zum bitteren Ende nachzugehen.
    Außerdem brauchte er Hilfe, und das Fieberhospital war ein guter Ort, sich bessere Ortskenntnisse zu verschaffen. Er verfluchte seine eigene Unzulänglichkeit. Wenn er nicht sein Gedächtnis verloren hätte, würde er sich wahrscheinlich an alle möglichen Leute erinnern, an die er sich in einem solchen Falle wenden konnte.
    Er stapfte über die Gill Street, den Kragen zum Schutz gegen den Wind hochgestellt, und der Gestank von Ruß und Abfallhaufen stieg ihm übelkeitserregend in die Nase. Die gewaltige Silhouette des alten Lagerhauses hob sich vor ihm grau gegen den grauen Himmel ab. Er beschleunigte seinen Schritt, gerade als es zu regnen begann, und schaffte es, den Eingang zu erreichen, bevor er naß wurde.
    Der Geruch der Krankheit stieg ihm augenblicklich in Nase und Kehle; er war anders als der gewohnte säuerliche, beißende Gestank draußen, an den er sich mittlerweile gewöhnt hatte. Dieser Geruch war strenger und aufdringlicher, und trotz höchster Willensanstrengung seinerseits machte er ihm angst. Hier ging es nicht um die Belange des Lebens; hier ging es um Schmerz und Tod und um die Nähe des Todes. Die Atmosphäre hier hüllte ihn wie Nebel ein, und er mußte sich dazu zwingen, nicht davonzulaufen. Er schämte und verachtete sich für seine Schwäche.
    Dann sah er die Frau mit Namen Mary auf sich zukommen, einen zugedeckten Eimer in der Hand. Er wußte, was darin sein mußte, und sein Magen krampfte sich zusammen.
    »Ist Lady Callandra hier?« fragte er sie. Seine Stimme klang brüchig.
    »Ja.« Ihr Haar klebte naß von Regen und Schweiß am Kopf, und ihre Haut wies einen gräulichen Schimmer von der Anstrengung der vergangenen Tage auf. Sie hatte keine Kraft mehr, höflich zu sein oder Ehrfurcht vor der Autorität anderer aufzubringen. »Da drin.« Sie wies mit dem Kopf zur Seite, irgendwo in das geräumige Lagerhaus hinein, und setzte ihren Weg dann fort.
    »Vielen Dank.« Monk betrat widerstrebend den höhlenartigen Raum. Er sah genauso aus wie beim letztenmal, schwach beleuchtet von Kerzen, der Boden bedeckt mit Stroh und Segeltuch, mit Menschenleibern, die sich wie Höcker unter ihren Decken ausnahmen. An beiden Enden des Raums verströmten schwarze Kanonenöfen Wärme und den Geruch von Kohle, während aus den großen Kesseln Dampf aufstieg. Die brennenden Tabakblätter bescherten ihm überdies ein unangenehmes Kratzen in der Kehle. Hester hatte einmal davon gesprochen, daß man diese Methode bei der Armee zur Ausräucherung anwandte.
    Er brauchte einen Moment, bis seine Augen sich an die schwache Beleuchtung gewöhnt hatten, dann sah er Callandra neben einer der Gestalten auf dem Stroh stehen. Kristian Beck stand ihr gegenüber; sie waren ganz in ihr Gespräch vertieft.
    Er war sich einer Bewegung zu seiner Linken bewußt, und als er sich

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