Sein eigen Fleisch und Blut: Thriller (German Edition)
Flur, zog sich den Mantel aus und hängte ihn über den ausgestreckten Arm einer Schaufensterpuppe, die in einer Nische an der Badezimmertür stand – der Stelle, wo sich normalerweise die Garderobe befunden hätte, wie sich unschwer an der Reihe kleiner Haken hinter dem Fedora erkennen ließ, den die Puppe gefährlich schief auf dem Kopf trug. Frans Jeans und Pullover waren abgetragen und hatten sich den Formen ihres Körpers angepasst, und ihre feingliedrigen Ellbogen zeigten sich hinter der ausgedünnten Wolle der viel zu langen Ärmel. Vik dachte daran, ihr einen dieser hübschen Kaschmirpullover zu kaufen. Er zuckte leicht zusammen, als Frances etwas mit dem Stiefel aus dem Weg schob, etwas, das er nicht sehen sollte. Sein Weihnachtsgeschenk, wie er hoffte.
Die kahlköpfige Schaufensterpuppe, die abgesehen von dem Fedora nackt war, streckte den Arm auf Schulterhöhe aus, mit der Handfläche nach oben, als erwarte sie ein Trinkgeld. An den stark abgestoßenen Fingern hing ein Tamburin. Vik klatschte die Puppe ab. Frances drehte sich zu ihm um.
»Na, das macht vermutlich jeder?«, sagte er dümmlich.
»Wieso jeder? Das ist mein Flur, oder?«, fragte sie ohne die geringste Spur von Humor. »Geh schon mal ins Warme; ich nehme deinen Mantel.«
Er betrat zum ersten Mal ihre eigentliche Wohnung. Für gewöhnlich musste er an der Tür warten oder ging gleich durch in ihr enges, dunkles Schlafzimmer. Erwartet hatte er ein Ikea-Wohnzimmer, Feng Shui und Laminatboden. Aber da hatte er sich vollkommen getäuscht; es war ein altes Zimmer, unaufgeräumt, doch liebevoll eingerichtet, und es passte zu Frances. Man machte einen Zeitsprung zurück in die Fünfziger, in eine Fülle verschiedener dunkler Rottöne. Der dicke burgunderfarbene Teppichboden, der schon bessere Tage gesehen hatte, zeigte einen grauen Staubrand an der Sockelleiste und war überall mit seidigen hellen Haarflocken bedeckt, die wohl von Yoko, der Siamkatze, stammten. Als er die Einkaufstüten abstellte, schlugen die Weinflaschen laut aneinander, und er stabilisierte sie mit dem Fuß, während er aus den Ärmeln des Mantels schlüpfte.
Sie nahm ihm den Mantel ab und lächelte geheimnisvoll. »Mach es dir bequem«, sagte sie und verließ das Zimmer. Ihre Absätze klackerten über die nackten Bodendielen im Flur.
Er setzte sich auf den Boden und wärmte sich die Hände an dem Kohlenfeuer, das langsam in Gang kam. Es fauchte und zischte wie ein lebendiges Wesen. Damit war auch der Mantel erklärt: Sie hatte Kohlen von draußen hereingeholt, die in einem Korb dastanden, noch mit Regentropfen bedeckt. Er lehnte sich zurück und schaute zur Decke. In der bernsteinfarbenen Leuchte, die an drei Ketten hing, lagen mehrere tote Fliegen. Auf dem hohen schwarzen Kaminsims standen zwei sepiagetönte Fotografien in ovalen Rahmen. Beide zeigten ein Paar, dem Alter zufolge vermutlich Frances’ Großeltern. Ihre Großmutter sah mit den braunen Augen wie eine gute Hexe aus und hatte das gleiche lange dunkle Haar und die gleichen vollkommenen Gesichtszüge. Von den Eltern hatte Frances keine Fotos, fiel ihm auf. Der Kamin war mit weinroten Kacheln gefliest, von denen viele geborsten waren, und zwischen ihnen sah man die weißen Risse und den geschwärzten Fugenmörtel. Die Schallplattensammlung wirkte hingegen gut sortiert. Die Platten standen in selbst gebauten Regalen oder waren einfach auf dem Boden gestapelt; auf dem Stapel vor dem Fenster stand eine Grünpflanze. Es mussten gut zweitausend Stück sein, schätzte er, und er sah nur einige wenige CDs, die alle einen Sonderangebotsaufkleber hatten. Der Stolz des ganzen Raums war ein alter Dual-Plattenspieler, der auf einer dämpfenden Matte thronte. Vik war von der Musiksammlung beeindruckt; er entdeckte jede Menge Raritäten in buntem Vinyl, und die schwarzen Versionen waren der Soundqualität wegen zusätzlich vorhanden. Allerdings fehlte ein DVD-Player; da würde er ihr wohl einen kaufen müssen. Er hatte schon eine DVD-Box von Rogans Greatest Hits für sie besorgt. Mit ein bisschen Glück konnte er die sogar beim Basar der Rowanhill School von O’Neill signieren lassen.
Er entdeckte Tubular Bells als Schallplatte, und zwar in hervorragendem Zustand und mit einer Plastikhülle geschützt. Er zog sie heraus, legte sie auf und schaute zu, wie sich der Tonarm senkte. Daraufhin lehnte er sich am Vorderteil eines kleinen Sofas an, schloss die Augen und ließ sich von der schwerelosen Musik davontragen.
Eine Stunde
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