Sein eigen Fleisch und Blut: Thriller (German Edition)
vorbildliche Mutter.« Miss Cotter hustete und bedeckte den Mund mit einem Taschentuch, das sie aus dem Ärmel zog. »Was soll man da tun? Er ist ja nicht mein Junge.« Ihre Stimme schnappte leicht über.
Costello holte ein Foto von Luca Scott hervor. »Kennen Sie diesen Jungen?«
»Hm, das ist doch der andere.« Miss Cotter nickte und spitzte die Lippen. »Ich habe von ihm gehört, es stand ja in den Zeitungen. Und im Krankenhauscafé reden alle über die Sache.«
»Hat Troy jemals Luca erwähnt? Den Namen vergisst man ja nicht so schnell.«
Miss Cotter schüttelte den Kopf; sie war vollkommen sicher. »Haben Sie eine Ahnung, was mit dem kleinen Troy passiert ist? Ich meine, er kann sich doch nicht einfach in Luft aufgelöst haben, oder?«
»Nein, ganz bestimmt nicht.« Costello fragte: »Wann haben Sie Troy zum letzten Mal gesehen? Wie ging es ihm da, war er gesund, war er glücklich? Aufgeregt?«
»Ich habe ihn gegen acht Uhr am Abend vorher zum letzten Mal gesehen. Er hat Hackfleisch mit Kartoffeln gegessen, das mögen alle Kinder, wissen Sie. Das verputzen sie regelrecht. Und wenigstens hatte er was Warmes im Bauch. Er war aufgeregt wegen des Weihnachtsmannes, glaube ich.«
»Er hat gut gegessen, und er hatte aber keine Halsschmerzen?«
»Ein bisschen Halsschmerzen hatte er immer, wegen der Mandeln oder so. Zu meiner Zeit haben sie die Mandeln einfach herausgenommen und Schluss. Ständig musste er Medikamente nehmen. Alison hat deswegen vermutlich mehr Geld vom Sozialamt bekommen.« Miss Cotter lächelte schief. Sie griff in eine Plastiktüte und holte einen Teddybär im schottischen Nationaltrikot heraus. »Den bekommt er von mir zu Weihnachten – ich dachte, es würde ihm gefallen.« Sie reichte ihn Anderson. »Möchten Sie vielleicht ein Tässchen Tee und ein Empire-Biskuit, wo wir schon davon sprechen?«, fragte sie.
Anderson gab Costello ein Zeichen.
»Das wäre sehr nett«, sagte Costello.
Beide schauten Miss Cotter hinterher, die in die dunkle Küche ging.
» Knusper, knusper, knäuschen, wer knabbert an meinem Häuschen «, flüsterte Costello ihm zu, als sich die Tür erneut hinter ihr schloss.
»Warum gehen Sie nicht zu ihr und helfen der lieben alten Dame mit den Tassen?«, schlug er vor.
Costello warf ihm einen Blick zu, der sagte, sie könnte jetzt eine Bemerkung über »Diskriminierung von Frauen« machen, würde aber darauf verzichten.
»Haben Sie eigentlich selbst auch Familie?«, fragte sie, nachdem sie in die enge Küche gegangen war.
»Nein, nein, hab ich nicht.« Miss Potter wischte sich mit dem Handrücken über ihre dünnen Lippen.
»Aber Sie haben so viele Fotos von Kindern im Wohnzimmer«, sagte Costello. »Ich dachte, das wären vielleicht Ihre Enkel.«
Miss Cotter nahm zwei Tassen von den Haken, an denen sie hingen, und stellte sie auf zwei Untertassen auf einem Tablett. Sie antwortete nicht, und ihre dünnen Finger spannten sich an, als sie den Schalter des Wassererhitzers hochdrehte.
Costello wartete.
»Wenn ich einen Enkel hätte, wäre er jetzt vermutlich schon über zwanzig.« Ein Teller und zwei Empire-Biskuits gesellten sich zu dem Geschirr auf dem Tablett. »Mitte zwanzig vielleicht.«
»Sie mögen Kinder, nicht?«, fragte Costello und nahm das Tablett.
Die alte Frau lehnte sich auf die Arbeitsfläche und schüttelte, plötzlich erschöpft, den Kopf. Einen Moment lang hatte Costello den Eindruck, sie würde zusammenbrechen. »Der arme kleine Troy … zu Weihnachten erscheint es einem noch viel schlimmer.« Sie hustete wieder in ihr weißes Taschentuch. »Siebenundfünfzig Jahre in dieser Wohnung, und immer gab es für mich einen Grund, Weihnachten zu feiern. Nicht nur für mich allein, verstehen Sie. Es gab immer jemanden, um den ich mich kümmern konnte, meistens kleine Jungen, einmal jedoch auch ein kleines, ganz wunderbares Mädchen; ihre Großmutter lebte gegenüber, da, wo Troy jetzt wohnt. Sie war wirklich etwas Außergewöhnliches, bildhübsch, und so ein sensibles Seelchen …« Miss Cotters Gesicht verdüsterte sich. »Ihre Mutter war nie da, und alle zwei Minuten hat ihr Vater sie verprügelt, daher wohnte die Kleine meistens bei ihrer Großmutter.« Sie putzte sich die Nase. Costello stellte das Tablett ab und wartete. »Damals hat man über solche Dinge nicht gesprochen. Sie ist oft einfach zu mir geflohen. Manchmal tut sie das heute noch, die Arme. Zu Weihnachten liegen stets Geschenke für sie alle unter meinem Baum, für all die kleinen
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