Sein letzter Burgunder
können. Aus der anfänglichen Zuneigung war Ablehnung geworden. Sie lächelte maliziös, einerseits liebreizend, vielleicht schmollend, aber an diesem Morgen eher böse.
»Mein Lieber«, vertraulich legte sie ihm die Hand auf die Schulter. »In der ersten Pause sollst du in den vierten Stock kommen. Die Polizei erwartet dich!« Sie blickte wichtigtuerisch auf die Namensliste in ihrer Hand, »sonst ist hier von Tisch dreizehn niemand aufgerufen. Frau Stöckli – Sie sind morgen dran, auch Sie, Mrs. Rider. Wir ändern das Prozedere ein wenig und dehnen dafür die Mittagspause aus. Herr Meyenbeeker ist dann für den letzten Flight wieder bei Ihnen, falls Sie ihn vermissen sollten.« Marions Blick war gefährlich wie ein Stilett. »Aber vor dem Bankett heute Abend bleibt allen sicher genügend Zeit zum Ausruhen.«
»Wie lange dauert das Verhör?«, fragte Henry.
»Es ist eine Befragung«, korrigierte Marion, als würde sie darüber entscheiden. »Bei den meisten dauert es eine Viertelstunde, es kommt darauf an, was sie zu sagen – oder zu verschweigen haben«, meinte sie vieldeutig, wünschte noch eine schöne Verkostung und entschwebte mit der Liste.
Am Tisch blickte man auf Henry, als erwarte man von ihm die Erklärung für den Auftritt. Er zuckte entschuldigend mit den Achseln und starrte auf den Code für den nächsten Wein, als würde ihm die Aneinanderreihung von Zahlen, Satzzeichen und Buchstaben etwas sagen. Also war es so weit, er müsste sich entscheiden, ob er von Hecklers Erpressung sprechen sollte. Er würde sein Verhalten von der Situation abhängig machen, sich bedeckt zu halten, bis er Franks Fotos kannte und wusste, ob sich der Kommissar kooperativ und interessiert zeigte. Andernfalls würde es kompliziert werden und er seiner eigenen Wege gehen.
Sie setzten die Weißweinprobe fort. Nach dem dritten Wein merkte Henry, dass der Flight gut zusammengestellt worden war. Man begann mit leichten Weinen und steigerte sich. Restzucker, Säure, Alkoholgehalt und der Jahrgang, also messbare Daten, bildeten die Kriterien sowohl für den Flight wie auch für die innere Reihenfolge. Die Weine wurden zwar nicht miteinander verglichen, aber ein Rahmen machte die Orientierung einfacher. Weine aus verschiedenen Jahren fielen völlig verschieden aus, und ein Wein mit einem hohen Alkoholgehalt führte zu einem anderen Geschmackserlebnis als einer mit wenig Alkohol, auch wenn Säure und Süße identisch waren. Er diente dem Wein als Geschmacksverstärker – so wie die Sahne den Geschmack einer Soße hob.
»Die Tischdecke hat einen Gelbstich«, empörte sich plötzlich van Buyten, als sie beim neunten Wein angekommen waren und alle die Gläser schräg über das weiße Tischtuch hielten, um Aspekt und Farbe vor einem neutralen Hintergrund zu beurteilen. Als hätte man an eine heiße Herdplatte gefasst, zuckten die Hände mit den Gläsern zurück, Wein schwappte über, Flecken breiteten sich aus, alle Juroren stierten auf das Tischtuch, und jeder fragte sich erschrocken, wieso er es nicht bemerkt hatte, was nicht hätte passieren dürfen. Aber Kopfschütteln und Achselzucken waren dieeinzigen Reaktionen, niemand pflichtete dem Holländer bei. Josephine Rider ließ als Vorsitzende diplomatisch das Tischtuch auswechseln, damit van Buyten Ruhe gab.
»Dieser Rotwein hat Kork!« Diesmal war es der Italiener Paolo Castellani, der seinem Entsetzen Ausdruck gab. Sofort neigten sich fünf Gesichter über die Gläser, und fünf Nasen tauchten hinein. »Junge Frau«, er winkte Natalie heran, die für Tisch dreizehn die Flaschen anschleppte, immer zwei, falls ein Kork- oder ein anderes Problem auftauchte und die Gegenprobe nötig war.
Henry schaute zum Beistelltisch, wo ihre Flaschen aufgereiht standen. Es handelte sich um die elfte Flasche vom zweiten Flight. Dort stand die Konterflasche. Das Schweigen war drückend, als alle bemerkten, dass der Wein keinen Kork haben konnte – es war eine Flasche mit Schraubverschluss, so viel ließ sich trotz der Hülle erkennen.
»Aber er hat eindeutig Kork«, insistierte Paolo Castellani, »Sie werden mir zustimmen«, – und so absurd es schien, er hatte recht. Im Wein hing der Dunst von Trichloranisol, obwohl der Wein nie einen Korken gesehen hatte. Die Menge bewegte sich höchstens im Nanobereich. »Natalie, bringen Sie trotzdem die zweite Flasche.« TCA roch entsetzlich, eine Tasse davon im Bodensee ausgeschüttet, so hieß es, wäre an sämtlichen Ufern spürbar
Weitere Kostenlose Bücher