Sein letzter Fall - Fallet G
Dass der Fall G. nach fünfzehn Jahren auf diese Art und Weise wieder auftauchte und ihn ausgerechnet nach Kaalbringen führte. Ein Zufall, der so unwahrscheinlich war, dass man gar nicht umhin kam, ihn ein wenig genauer zu untersuchen. Zumindest
versuchte,
ihn zu untersuchen.
Ein Zeichen? Ein Knotenpunkt im Muster?
Eine Art Bußfahrt vielleicht?, kam ihm in den Sinn. Dafür, dass er vor fünfzig Jahren nicht das Leben dieses jüdischen Jungen gerettet hatte. Dafür, dass er Jaan G. Hennan damals und auch später hatte laufen lassen.
Dafür, dass er den Kontakt mit Kommissar Bausen nicht hatte aufrechterhalten, wie er es hätte tun sollen… und vielleicht auch für Erich?
Und jetzt öffnete sich plötzlich eine Tür einen Spalt weit und gab ihm die Möglichkeit, das eine und andere und auch ein Drittes zurechtzurücken. Oder war es nicht erlaubt, es so zu sehen?
Bullshit, dachte er. Was hat denn Erich damit zu tun?
Es war wie immer. Der vergebliche Versuch des Statisten, eine Regie zu verstehen, von der er keine Ahnung hat. Fünf Sekunden auf der Bühne, und du meinst, den Odem der Ewigkeit zu schnuppern!
Er suchte unter den Scheiben und entschied sich für Schnittke. Scharfe Streicher und scharfe Rhythmen, die die Gedanken etwas schärfen könnten.
G. Es war der Fall G., um den es hier ging, nichts anderes, wie er entschied. Keine schwammigen persönlichen Motive, keine Umschreibungen, nur die alte Frage, der ich seit fünfzehn Jahren hinterherjage.
Wer hat Barbara Clarissa Hennan getötet?
Oder besser: Wie hatte Jaan G. Hennan es angestellt, sie zu töten?
Er erinnerte sich daran, dass jemand den Begriff »klassisch« bereits angewendet hatte, als die Ermittlungen 1987 noch am Laufen waren. Münster oder Reinhart wahrscheinlich. Oder vielleicht sogar Verlangen selbst? Es war jedenfalls kein Problem, dieser Einschätzung zuzustimmen. Denn die Geschichte mit der toten Amerikanerin in dem trockengelegten Schwimmbecken in Linden war so klassisch simpel, dass ihr fast die Substanz fehlte. Keine verdunkelnden Umstände. Keine verwirrenden Hinweise, die hierhin und dorthin zeigten. Keine schiefen Motivbilder und unklaren Zeugenaussagen.
Nur eine tote Frau und eins Komma zwei Millionen Gulden. Und G.
Und dann dieser Verlangen.
Doch, Verlangen hatte den klassischen Aufbau gestört, das musste er zugeben. Die Rolle des heruntergekommenen Privatdetektivs war bereits zu der Zeit verwirrend gewesen, und das war sie natürlich heute noch genauso.
Wenn er, wie gesagt, überhaupt jetzt wieder eine Art Rolle gespielt hatte? War es logisch, davon auszugehen?
Konnte es tatsächlich so sein, dass Maarten Verlangen eine Spur von G. aufgespürt hatte? Wie war es dann gelaufen? Am Wahrscheinlichsten war, dass er ganz einfach zufällig über etwas gestolpert war – und das erst recht, wenn man den Zustand bedachte, in dem er sich befand.
Und dann diese Worte am Telefon zu seinem Enkelsohn.
Jetzt weiß ich, wie es abgelaufen ist!
Stimmte das? War das möglich? Was um alles in der Welt hatte dieser verkommene Exdetektiv denn gemacht, um die Lösung eines Rätsels zu finden, an dem er selbst seit mehr als anderthalb Jahrzehnten knackte?
Unwahrscheinlich, dachte Van Veeteren und fuhr schneller. Absolut unwahrscheinlich.
Und dennoch war es ebenso schwer, eine andere Möglichkeit zu sehen.
Er aß zu Mittag in einem Rasthaus in Höhe von Ulming. Rief Bausen an und erzählte ihm, dass er in ungefähr zwei Stunden da sein würde. Bausen klang munterer denn je. Van Veeteren konnte sich kaum vorstellen, dass er schon über siebzig sein sollte, aber dem war nun einmal so. Vielleicht hatten die Gefängnisjahre ihm auf irgendeine paradoxe Art gut getan. Beim gestrigen Telefongespräch hatte er so etwas in dieser Richtung angedeutet, und vielleicht war das auch nichts, worüber man sich wundern musste.
Wenn man beispielsweise den Begriff der Buße betrachtete.
Eine Wolkenbank hatte sich im Laufe des Vormittags langsam aus Nordwesten herangeschoben, und als er nach der Mittagsrast fünf Minuten gefahren war, hatte er den Regen über sich. Die Landschaft, diese weiten, wogenden Felder, verloren ihre Konturen und ihre Farbe. Er tauschte Schnittke gegen Preisner und fand wieder die Stimmungsebene von Kieslowski.
Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönend Erz oder eine klingende Schelle.
Das stimmte. Im Laufe der letzten fünf Jahre hatte er gelernt, dass sie so verdammt
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