Sein letzter Fall - Fallet G
Ernsterem begründet war als in der Tatsache, dass die beiden vor dreißig, vierzig Jahren Schulkameraden gewesen waren, das konnte er nicht sagen. Nachdem er eine Weile gezögert hatte, fragte er geradewegs, was denn eigentlich los sei, und der Kommissar musste zugeben, dass er nicht direkt in Topform war.
»Unser Kollege Mort hat auch davon berichtet«, fügte er hinzu, nachdem er von dem Bier probiert hatte. »Aber du hast Mort wohl nie kennen gelernt?«
»Nur ein paar Mal ganz kurz«, erklärte Münster. »Aber ich habe nie mit ihm gesprochen.«
»Er ist in den letzten Jahren so müde geworden. Es ging ganz schnell, als wäre er plötzlich durch eine Wand gegangen. Er hat mir davon erzählt… aber eher in Andeutungen, ich weiß nicht, ob er wirklich darüber reden wollte, jedenfalls war es der Job, der ihn zum Schluss aufgefressen hat.«
»Und worum ging es dabei?«, fragte Münster.
Van Veeteren zündete sich eine Zigarette an und schaute eine Weile aus dem Fenster, bevor er antwortete.
»Offenbar auch um so eine Geschichte. Oder vielleicht um ein paar. Ermittlungen, bei denen alles glasklar war und er trotzdem zu keinem Ergebnis kommen konnte. Bei denen er gezwungen war, den Täter laufen zu lassen.«
»So was passiert allen«, sagte Münster. »Man muss nur einen Weg finden, damit klarzukommen.«
»Natürlich«, sagte der Kommissar. »Aber manchmal findet man den Weg eben nicht. Ich glaube, in Morts Fall war da auch etwas ganz Persönliches dabei. Ein naher Verwandter, der darin verwickelt war, habe ich im Kopf, aber er ist nie ins Detail gegangen. Wie gesagt.«
Münster dachte eine Weile nach.
»Es gibt in den USA einen Ausdruck, der Blue Cops heißt, kennst du den?«
Van Veeteren nickte leicht, gab aber keine Antwort.
»Polizeibeamte, die ausbrennen«, sagte Münster, »da gibt es in der Selbstmordstatistik eine Überrepräsentation, die ziemlich erschreckend ist… ich habe vor ein paar Wochen darüber gelesen.«
Van Veeteren trank einen Schluck Bier.
»Ja, ich kenne das Phänomen. Vielleicht sollte man eine Seele aus Stahl haben, aber leider kommt man auch damit nicht besonders weit. Man verliert sozusagen die Fähigkeit zu sehen, wenn man nicht eine gewisse Art von Dunkelheit in sich hat… ich glaube, Churchill war es, der darüber geschrieben hat. Dass er in gewisser Weise Hitler
verstanden
hat. Auch in die schlimmste Psyche ist ein gefühlvoller Blick nötig, vergiss das nicht, Münster.«
Münster dachte wieder eine Weile schweigend nach.
»Und G. hat so eine schwarze Seele?«
Van Veeteren hob die Augenbrauen und schien sich über die Frage zu wundern.
»Zweifellos. Wenn er überhaupt eine Seele hat.«
»Und wir müssen also…?«
Münster brach von allein ab und lachte laut auf, aber der Kommissar schaute ihn weiterhin ernst an.
»Dann stimmt es also…?«, fragte Münster vorsichtig. »Dann stimmt es also, dass es in diesem Fall einen ganz persönlichen Aspekt gibt? Genau wie bei Mort. Der Kommissar hatte ja schon früher mit Jaan G. Hennan zu tun, nicht wahr?«
Van Veeteren schien nicht gewillt zu sein, den Faden aufzunehmen, und Münster fürchtete, zu weit gegangen zu sein. Er trank einen Schluck und lehnte sich zurück. Schaute diskret auf seine Armbanduhr und stellte fest, dass er bald nach Hause gehen musste.
Oder es schon lange hätte tun sollen. Er hatte Synn versprochen, vor sechs Uhr zu Hause zu sein, es sollten Gäste kommen… zwar nur ihre Schwester mit Ehemann, aber trotzdem. Und sollte er nicht auf dem Heimweg auch noch einkaufen…?
»Ja, sicher«, unterbrach der Kommissar seinen Gedankengang. »Das stimmt. Obwohl es schon verdammt lange her ist, aber da gab es eine Frau… oder, besser gesagt, ein Mädchen.«
»Ein Mädchen?«, fragte Münster nach.
»Ja, ein Mädchen. Neunzehn, zwanzig Jahre alt…«
»Ja?«, fragte Münster mit einer plötzlichen Neugier, die so groß war, dass er sie nicht mehr verstecken konnte.
»Wie schon gesagt«, sagte der Kommissar. »Aber darüber reden wir ein andermal.«
Was ich nicht glaube, dachte Münster und biss seiner Neugier den Kopf ab. Es hatte offenbar keinen Sinn, weiter nachzubohren. Er trank sein Bier aus und bereitete sich darauf vor, das Andenaar’s zu verlassen.
»Und wann will der Kommissar das Verhör mit Hennan stattfinden lassen?«, fragte er.
Van Veeteren drückte seine Zigarette aus, und dann leerte auch er sein Glas.
»Heute Abend«, sagte er. »Ich plane, ihn heute am späten Abend holen zu
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