Sein Schmerz - Extrem (German Edition)
hatten Melanie und ihr Mann aus Mitleid mit ihrem Sohn – oder vielleicht, um sich selbst zu bestrafen – versucht, dasselbe zu essen wie er. Mehr als einmal hatte Edward bekräftigt, es sei nicht fair, dass sie beide glücklich sind, während ihr Sohn so entsetzlich leiden muss. Sie hatten sogar mit dem Sex aufgehört. Edward wollte nicht riskieren, erneut Nachwuchs zu zeugen, der unter einer so schweren Krankheit litt, und außerdem fühlte er sich schuldig wegen des Glücksgefühls, das Melanie ihm bescherte. Ihr Sohn würde derartige Freuden niemals erleben. Nach ein paar Jahren waren sie jedoch in ihre üblichen Gewohnheiten zurückgefallen. Sie würzten ihr Essen wieder, wenn auch nicht ganz so aromatisch wie früher. Der alles überdeckende Geruch der Gewürze schlug Jason auf den Magen und manchmal musste er sich deswegen sogar übergeben. Sie brieten ihr Essen auch nicht mehr, aber zumindest verkochten sie nicht mehr alles, und hin und wieder bestellten sie sogar etwas zu sich ins Haus. Sie opferten schon genug für ihren Sohn. Es gab keinen Grund, auch noch ihre Mahlzeiten in Elend zu verwandeln.
Auch ihr Sexleben kehrte in gewisser Form wieder zurück – nur, dass es sich nun durch Kondome und Antibabypillen auszeichnete. Manchmal weinte ihr Mann, wenn sie Sex miteinander hatten. Manchmal tat sie es auch. Sie konnten nicht anders, als sich an jene Zeit zurückzuerinnern, in der ihr Liebesleben von Liebe und freudiger Erwartung erfüllt gewesen war. In der sie sich vorgestellt hatten, dass in jedem Samen die Möglichkeit schlummerte, einen Wonneproppen zu zeugen und ihre kleine Familie endlich komplett zu machen. Nun lag ihr Wonneproppen in seinem Zimmer auf der anderen Seite des Flurs in Latex mumifiziert, aus Angst, dass irgendetwas oder irgendjemand ihn berührte und er anfing zu schreien.
Melanie schaltete den Fernseher an. Sie zappte zu einer ihrer Lieblingstalkshows und sah zu, wie sich der gut gebaute, glatt rasierte dunkelhäutige Moderator nach vorne lehnte, so als sei er von den Worten seines Gastes, einem winzigen asiatischen Mann in orangefarbener Kutte, völlig gebannt. Melanie hatte schon immer eine Schwäche für dunkelhäutige Männer gehabt. Eine Zeit lang war sie sogar nur mit Schwarzen ausgegangen. Das war nur eines der vielen Geheimnisse, die sie nie mit Edward geteilt hatte. Die Last, die er trug, war schon groß genug, ohne dass er sich fragen musste, wie er wohl im Vergleich mit einem schwarzen Hengst abschnitt, der sie in der Vergangenheit bestiegen hatte – besonders jetzt, da ihr Sexualleben nur noch eine kalte, sterile Körperfunktion war, wie urinieren oder scheißen. Es war eher eine Notwendigkeit, um sich des aufgestauten Drucks ihres Sexualtriebs zu entledigen, als etwas, das aus echter Leidenschaft oder aufrichtigem Verlangen entstand.
Melanie drehte den Ton lauter.
»… Ja, das ist wahr. Der Schmerz war unerträglich, aber durch Meditation, kreative Visualisierung und die richtige Atemtechnik konnte ich ihn ausschalten. Ich habe sechs Tage unter einer Lawine verschüttet überlebt, mit zwei gebrochenen Beinen und einem gebrochenen Arm. Die Schlammlawine hat mich von meinem Fahrrad gerissen und mich dann gegen jeden Stein und jeden Felsen des ganzen Berges geschleudert. Ich hatte außerdem mehrere gebrochene Rippen, drei gebrochene Finger und eine tiefe Platzwunde an der Stirn. Mir war schwindelig, ich hatte entsetzliche Schmerzen und dachte, ich würde unter dem bitterkalten Schlamm erfrieren. Schließlich hab ich es geschafft, mich mit meinem gesunden Arm freizuschaufeln. Ich habe die Knochen in meinen Beinen und meinem Arm selbst wieder gerichtet und mit ein paar Ästen und meinen Schnürsenkeln geschient. Dann bin ich den Berg zur Straße wieder hinaufgekrabbelt. Ich habe versucht, meinen Geist außerhalb meines Körpers zu fokussieren. Ich habe mir vorgestellt, ich sei der Vogel über mir oder ein Nager oder ein Insekt, das sich durch die Erde gräbt. Aber ich konnte es mir nicht nur so vorstellen wie sich ein Kind etwas vorstellt, das in seiner Fantasiewelt spielt. Ich musste es auch im Innersten meiner Seele glauben. Ich musste versuchen, mich in ihre Körper zu versetzen und meinen eigenen zu verlassen. Genau das lehrt man uns auch im Tempel, aber dort hat es nicht funktioniert. Ich konnte meinem eigenen zerstörten Körper nicht entfliehen. Also bin ich, anstatt vor mir selbst zu fliehen, tiefer in mich eingedrungen. Ich bin in den Schmerz eingetaucht und
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