Seine einzige Versuchung
schätzte. Frau Preuß hatte Elli offensichtlich erfolgreich gesucht. Die Tochter schien nicht gerade begeistert davon, wie ihm ihre finstere Miene verriet. Die Mutter sagte etwas zu Elli, woraufhin sie zögernd ihren Blick vom Boden in die Runde der Gäste erhob. Er konnte nicht anders als sie aus der sicheren Distanz vom Buffet aus durchdringend anzustarren. Ihr Kleid betonte ihren Körper - den Körper einer Frau. Obwohl ihr die Situation anscheinend nicht behagte, war ihre Haltung aufrecht. Sie als Mädchen zu bezeichnen, erschien ihm abwegig. Niemand schien sie auf die Art wahrzunehmen wie er es tat. Ihre Familie sah in ihr immer noch das störrische Kind, das sie längst nicht mehr war. Sie hatte zweifelsohne eine kindliche Zartheit an sich, aber sie war erwachsen. Und sie wusste offensichtlich, was sie wollte und vor allem was nicht. Sie war anders als die anderen Frauen: eigenwillig, unbeugsam - aufregend. Es gelang ihm, einen ihrer Blicke einzufangen und festzuhalten. Neben sich hörte Benthin auf einmal Gelächter. Er wusste nicht, worüber gelacht wurde. Die Worte des Professors waren wie durch Watte kaum zu ihm durchgedrungen. Elli richtete ihre Augen wieder auf die anderen Gäste. Täuschte er sich, oder war sie im Moment ihres Blickkontaktes errötet?
Scheinbar niemandem war aufgefallen, dass Elli für einige Augenblicke von Benthin wie hypnotisiert war, da alle auf den Professor sahen. Allein den aufmerksamen Augen ihrer Tante entging so schnell kein Detail, gerade wenn es um die Annäherung zwischen den Geschlechtern ging. Schon die merkwürdige Begrüßung Ellis und sein ungeschicktes Verhalten hatten ihre Wachsamkeit auf den Plan gerufen. Und dass Elli verlegen wirkte oder rot wurde, kannte sie so gar nicht von der Tochter ihrer jüngeren Schwester. Nun sah sie dieses verräterische Erröten schon zum zweiten Mal an diesem Abend. Es erschien ihr auffallend, dass es anscheinend immer im Zusammenhang mit Benthin geschah. Was hat er noch gleich gesagt? Er wünscht ihr einen Mann, der ihr Wesen aufrichtig schätzt. Was hat er damit gemeint? Spricht er etwa von sich? Seine Worte erschienen ihr mit Bedacht gewählt und hatten sie stutzig gemacht. Der intensive Blickkontakt zwischen beiden und Ellis erneutes Erröten waren für sie eine Bestätigung ihres aufkeimenden Verdachtes. Nach der Ansprache des Schwagers hatte sie große Eile, ihre Schwester unter vier Augen zu sprechen.
Elli sah aus einiger Distanz, wie ihre Tante und ihre Mutter aufgeregt miteinander tuschelten und immer wieder zu ihr hinüber sahen. Sie ahnte, dass über sie gesprochen wurde, als es plötzlich an der Haustür klingelte. Frau Preuß klatschte begeistert in die Hände:
„Ah, das werden die Musiker sein - endlich!"
„Ich mache die Tür auf!", reagierte Elli blitzschnell. Es war eine willkommene Gelegenheit, den Saal erneut zu verlassen und dem Getratsche und den neugierigen Blicken der beiden Frauen zu entkommen. Sie ließ die Musiker ins Haus und ergriff die Gelegenheit, im allgemeinen Durcheinander zwischen Instrumentenkoffern, Notenständern und anderen Utensilien durch die Haustür zu entwischen.
Eine ganze Weile lang bemerkte Frau Preuß Ellis Fehlen gar nicht. Sie war beschäftigt, die Musiker nach ihren Vorstellungen zu platzieren und flatterte dabei wie ein aufgeregtes Huhn umher. Schließlich war fast alles an Ort und Stelle, so dass nun bald der musikalische Teil des Festes beginnen konnte, als ihr auffiel, dass Elli abermals verschwunden war. Nachdem sich ihre erste Panik etwas gelegt hatte, erinnerte sie sich, was ihre Schwester beobachtet hatte, und beschloss, die Entwicklung der Dinge voranzutreiben. Natürlich war dies eine unerwartete Wendung, und der Altersunterschied - immerhin fast fünfzehn Jahre - war zwar nicht vollkommen ungewöhnlich, aber auch nicht an der Tagesordnung. Doch sollte ihre Schwester Recht haben, wäre es eine Schande, sich eine Partie wie Julius von Benthin für ihre Tochter durch die Lappen gehen zu lassen. Entschlossen schritt sie auf Benthin zu, der sich gerade bei einem Cognac mit einem Berufskollegen austauschte.
„Benthin, ich muss Sie dringend sprechen. Bitte entschuldigen Sie uns", sagte sie mit einer Stimme, die keinen Widerspruch zuließ. Benthin war geübt darin, seine Gefühle zu verbergen, zuckte aber innerlich zusammen. Er fühlte sich ertappt,als habe man ihn bei einem Diebstahl erwischt. Dabei hatte er sich bislang keinen einzigen Gedanken an die Vorstellung
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