Seine einzige Versuchung
untermauern, trat er nun einen Schritt zurück und wandte sich zum Gehen.
„Sie wollen wirklich jetzt gehen?“, fragte Elli niedergeschlagen.
„Ich muss… leider. Auf Wiedersehen.“
Kapitel 6
Obwohl sie durch die nachgeholte Mahlzeit wieder gekräftigt war, fühlte sich Elli matt und leer nach dem Abschied von Benthin. Die Vorstellung, den Rest des Abends ohne ihn zu verbringen, erschien ihr ebenso befremdlich wie die Alternative, den Saal nach der längeren Abwesenheit gemeinsam mit ihm zu betreten. Man hätte sich die Mäuler über sie zerrissen. Unbequeme Fragen von Frau Preuß waren ohnehin unausweichlich. Sein Rückzug war im Grunde genommen die einzige Möglichkeit, den Zwischenfall mit einer einfachen Erklärung abzuschließen. Selbst mit dieser Erkenntnis kostete es Elli ihre ganze Überwindung und innere Stärke, den Festsaal nun wieder zu betreten. Sie straffte ihre Schultern und betrat aufrecht den Raum. Wie nicht anders zu erwarten, schoss ihre Mutter sofort mit strenger Miene auf sie zu und wollte Elli ungehalten anfahren. Doch Elli war auf den Auftritt der Mutter vorbereitet und kam ihr zuvor:
„Ich war in der Küche, um nach dem Kuchen zu sehen - sie bringen ihn gleich herein.“
„Wo ist Benthin?“ Sein Fehlen war den wachsamen Augen ihrer Mutter also nicht entgangen, ebenso wenig wie der gemeinsame Tanz mit ihm: „Du hast doch vorhin noch mit ihm getanzt, und dann wart ihr beide plötzlich verschwunden.“
„Ich hatte vergessen, während des Festes etwas zu essen, so dass mir beim Tanzen etwas flau wurde. Er hat mich in die Küche gebracht und sich dann verabschiedet… Anscheinend hatte er noch etwas vor. Er bat mich, ihn bei Euch zu entschuldigen.“ Und das ist nicht gelogen… beruhigte Elli ihr Gewissen.
„Das sieht ihm so gar nicht ähnlich, zu gehen, ohne sich persönlich zu verabschieden…“, sinnierte Frau Preuß, als sich zu Ellis Erleichterung die Tür öffnete. Begleitet von großem Ah und Oh! wurde die Geburtstagstorte mit einundzwanzig brennenden Kerzen feierlich von der Köchin und einigen Helfern auf einem Servierwagen hereingebracht. Martha zwinkerte Elli verschwörerisch zu. Elli hoffte, ihrer Mutter würde dieses Detail ausnahmsweise entgehen. Sie wünschte inständig, der Tag möge endlich enden. Dem ersehnten Ziel nahe, sammelte sie ihre letzten Kräfte, um die Kerzen auszublasen. Innerlich die Minuten zählend wartete sie ungeduldig ab, bis die Gäste ihren Kuchen verzehrt hatten und allmählich eine allgemeine Aufbruchstimmung einsetzte. Mit einem Hinweis auf ihre Erschöpfung und Müdigkeit gelang es Elli, sich in aller Eile von ihren Familienmitgliedern zu verabschieden. So konnte sie vorerst weiteren eindringlichen Fragen aus dem Wege gehen.
Überzeugt, keinesfalls Schlaf zu finden nach diesem Tag, sehnte sie sich doch nach ihrem Zimmer, der Ruhe und der Wärme ihres Bettes. Sie wollte sich nicht mehr mit den neugierigen Blicken und Fragen ihrer Mutter befassen müssen - das hatte Zeit bis morgen. Vielleicht hatte diese bis dahin schon wieder ein neues Thema gefunden, über das sie sich ereifern konnte. Nun war es wichtiger, ihre Gedanken zu sortieren und den Gefühlsaufruhr, den Benthin in ihr ausgelöst hatte, zu verstehen. Sie fühlte sich wie umgekrempelt nach den Ereignissen dieses Tages. Seit er fortgegangen war, empfand Elli eine innere Leere, und dennoch war sie froh, endlich alleine zu sein und in Ruhe nachdenken zu können. Sie rief sich jeden Moment mit ihm noch einmal in Erinnerung. Bei den Gedanken an seine Worte und Blicke begann ihr Herz zu rasen. Die Erinnerung an seine Berührungen überwältigten Elli. Sie wollte ihn wiedersehen und zwar so bald wie möglich. Allerdings hatte sie keine Ahnung, wie sie das anstellen sollte. Selbst für Elli, die geltende Konventionen stets in Frage stellte, war es vollkommen undenkbar, gegen die Etikette zu verstoßen, indem sie einen alleinstehenden Mann seines Alters ohne Begleitung in seinen privaten vier Wänden aufsuchte. Es lag in seiner Hand, wann sie sich wieder begegnen würden. Und wenn nun wieder Monate oder wie zuletzt Jahre vergehen, bis er sich wieder hier blicken lässt? Elli war beunruhigt angesichts dieser Aussichten. An Schlaf war in der Tat nicht zu denken. Dennoch zwang sie sich, ihre Gedanken in andere Bahnen zu lenken und ertappte sich bereits nach kürzester Zeit abermals dabei, unaufhörlich an ihn denken zu müssen. Sie fragte sich, ob es ihm womöglich ähnlich erginge.
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