Seine Heiligkeit: Die geheimen Briefe aus dem Schreibtisch von Papst Bendedikt XVI. (German Edition)
vor
allem dem Gendarmeriekorps, das das gesamte Gelände überwacht und dort patrouilliert;
hierzu gehören auch die beiden Korps im Petersdom und in der Aula Paolo VI.
Von Ermittlungen außerhalb der vatikanischen Mauern ist
hier natürlich keine Rede. Das wäre ja im übrigen Europa auch völlig undenkbar.
Man stelle sich vor, was los wäre, wenn italienische Carabinieri jemanden in
Paris beschatten würden oder wenn Scotland Yard seine Agenten auf Mission nach
Mailand, Berlin oder Madrid schicken würde.
Die Ratschläge an Benedikt XVI. zum Fall Emanuela Orlandi
Die geheimdienstlichen Aktivitäten des Vatikans auf
italienischem Boden im Zusammenhang mit der Beschattung auf den Straßen von
Parioli gelangen jetzt erstmals mit den Unterlagen an die Öffentlichkeit, die
der Informant »Maria« und andere in den letzten Jahren zusammengetragen haben.
Man kann sich kaum vorstellen, wie viele weitere vatikanische Nachforschungen
unbemerkt in Italien stattgefunden haben. Über den vatikanischen Geheimdienst
wurde viel spekuliert, aber gesicherte Erkenntnisse über seine Tätigkeit in den
vergangenen 100 Jahren drangen bisher nie nach außen.
Einmal allerdings wurde ein Agent der vatikanischen Gendarmerie
enttarnt, als er während einer Kundgebung in Rom, bei der die Wahrheit über die
1983
verschwundene Emanuela Orlandi gefordert wurde, in Zivil seiner Tätigkeit nachging.
Am 21. Januar
2012,
einem Samstagnachmittag, nimmt Emanuelas Bruder Pietro Orlandi vor der Kirche
Sant’Apollinare in Rom an der Protestkundgebung gegen das Schweigen des
Heiligen Stuhls teil. Ein paar Hundert Leute haben sich auf dem Platz vor der
Kirche versammelt, in der ausgerechnet Enrico De Pedis, genannt Renatino,
begraben ist. Er war der Boss der Banda della Magliana, einer kriminellen
Organisation, die in den 80er-Jahren die Stadt Rom in ihrer Gewalt hatte. Ein
symbolträchtiger Ort: Denn genau dieser Mann war womöglich in die Entführung
und das Verschwinden des Mädchens verwickelt.
Mit einem Teleobjektiv fotografiert ein dunkel bebrillter Mann
hemmungslos Spruchbänder und Flugblätter sowie die Teilnehmer und Redner dieser
Kundgebung, auf der die Wahrheit über Emanuelas Schicksal gefordert wird. Unter
den Demonstranten befinden sich mehrere Staatsbürger des Vatikans und Personen,
die in den Sacri Palazzi arbeiten und den Mann mit der Kamera als einen der
Agenten der vatikanischen Gendarmerie erkennen. Es handelt sich um Francesco
Minafra, der seit gut fünf Jahren Domenico Giani unterstellt ist. Wer hat ihn
beauftragt? Für wen sind diese Fotos bestimmt? Die römische Polizei legt eine
Akte an und entdeckt, dass Minafra von einem Kollegen begleitet war. Die Sache
kommt über den führenden Mitte-links-Politiker Walter Veltroni ins Parlament.
Er richtet eine Anfrage an die Innenministerin Anna Maria Cancellieri, die den
Ausgang der Ermittlungen abwartet.
Pietro Orlandi weiß es nicht, aber die Geschichte ist kein
Einzelfall. Die Affäre um seine Schwester wird von Benedikt XVI. aufmerksam verfolgt. Don Georg, sein
Privatsekretär, liest sorgfältig alle Informationen, die Giani zusammentragen
kann. Auf der einen Seite sucht eine Familie nach der Wahrheit, auf der anderen
steht eine Institution, der Vatikan, in der die goldene Regel gilt, dass ein
Geheimnis keines mehr ist, wenn mehr als eine Person davon Kenntnis hat. Schon
Anfang Dezember 2011
hat Pietro Orlandi sich mit Padre Georg getroffen, und am 16. Dezember
wendet er sich erneut an ihn mit einem Brief, in dem er ihm für das Gespräch
dankt und ihm mitteilt, die gesamte Familie sei überzeugt, »Seine Heiligkeit
könne mit ihren Worten das Gewissen derjenigen wachrütteln, denen es obliegt,
die Wahrheit zu ergründen«. Er kündigt ihm an: »Am Sonntag, dem 18.,
werden beim Angelus viele, die den an den Papst gerichteten Brief [eine
Petition für die Aufklärung des Falls mit 45 000 Unterschriften]
unterzeichnet haben, am Petersplatz sein, in der Hoffnung, Seine Heiligkeit
werde während des Angelus Emanuelas gedenken und für sie beten. Diese Geste
könnte den Beginn eines neuen Weges zur Wahrheit markieren.«
Orlandi scheint entschlossen, der Wahrheit über das Verschwinden
seiner Schwester auf die Spur zu kommen. In den heiligen Hallen fragt man sich,
ob man seine Bitte erfüllen kann: Soll sich der Papst zu Emanuela äußern? Wie
jetzt aus den Unterlagen ersichtlich wird, beschäftigen sich Ratzingers engste
Mitarbeiter tagelang mit dieser Frage, sie
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