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Seine Toten kann man sich nicht aussuchen: Eine Polizistin erzählt (German Edition)

Seine Toten kann man sich nicht aussuchen: Eine Polizistin erzählt (German Edition)

Titel: Seine Toten kann man sich nicht aussuchen: Eine Polizistin erzählt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janine Binder
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biologischen Teil?«
    »Die Kurzform reicht mir!«
    »Nun, der hier ist in seinem Sessel gestorben, entweder aufgrund einer Erkrankung« – er deutet auf die Stapel von Pillenpackungen auf dem Wohnzimmertisch –, »im Suff« – sein Zeigefinger wandert über die verschimmelten Bier- und Schnapsflaschen – »oder aus einem anderen Grund, der sich mir noch nicht erschließt. Dann saß er tot in seinem Sessel, und langsam setzte die Verwesung ein. Die Hautschicht hat sich vom Körper gelöst und ist am Sessel kleben geblieben, während er vom Stuhl runtergerutscht und auf dem Boden gelandet ist. So eine glatte und großflächige Ablösung der Haut hab ich allerdings auch noch nie gesehen.« Er betrachtet eingehend die grünliche Masse. »Das Ganze ist ziemlich genau sechs Wochen her.«
    »Woher willst du das wissen?«
    »Guck dich um, und finde es selbst heraus.«
    Ich wandere durch den Raum, schaue mich um. Auf dem Tisch liegt eine Fernsehzeitung vom Juni. Ich deute darauf, der Kollege nickt. »Weiter, was noch?«
    Plötzlich wird mir bewusst, wie warm es in der Wohnung ist. Es ist ein heißer Tag, aber die Rollos sind überall heruntergelassen. So heiß dürfte es eigentlich nicht sein.
    Entschlossen steuere ich auf den Heizkörper zu. Der Regler steht auf der höchsten Stufe. »Wäre er jetzt in der Hitzewelle gestorben, wäre wohl die Heizung nicht an. Im Juni hatten wir aber ein paar recht kühle Tage, stimmt’s?«
    Wieder ein Nicken: »Komm, denk nach, eins fehlt noch!«
    Ratlos schaue ich mich weiter um. In der Küche, direkt neben meiner dicken Made, werde ich fündig: Dort steht ein kleiner Tischkalender, auf dem das Blatt für den Juni noch nicht abgerissen ist.
    »Sehr gut, Frau Sherlock Holmes!« Norbert nickt anerkennend.
    »Ich dachte immer, in der Hitze vertrocknen Leichen irgendwann. Der hier ist aber doch noch ziemlich … ähm … schwammig!« Vorsichtig stoße ich mit der Fußspitze gegen den Leichnam. Aus einer aufgerissenen Hautstelle rinnt ölig schillerndes Leichenwasser.
    Norbert zuckt mit den Schultern. »Ist mal so, mal so. Hängt auch viel von den äußeren Umständen ab. Das Haus hier ist ziemlich feucht, außerdem die vielen Tierchen. Da kann so was schon mal vorkommen.«
    Es klopft an der Wohnungstür. Norbert hält sich die Nase zu, da ein Luftzug den Geruch plötzlich noch mal verstärkt. Dann öffnet er. Zwei Bestatter betreten mit einer Zinkwanne die Wohnung.
    »Herrgott noch mal, das ist ja …« Mehr bekommt der Jüngere der beiden nicht raus, bevor er ins Bad rennt und sich ins Waschbecken übergibt. Als er wieder auftaucht, entschuldigt er sich. »Himmel, so einen hatten wir ja schon lange nicht mehr! Scheint, als wärt ihr Kandidaten für das Prädikat ›Ekligste Leiche des Sommers‹!« Er wischt sich noch mal über den Mund und klopft dann Norbert auf die Schulter.
    »Ja, scheint so, als sei das der diesjährige Jahressieger!«, grunzt der nur.
    Wir helfen, den Leichnam in die Zinkwanne zu hieven. Dabei stelle ich fest, dass er tatsächlich an manchen Stellen eher vertrocknet als aufgedunsen ist. Am Kopf, an den Füßen und an den Fingern ist die Haut so von Insekten zerfressen, dass man die Knochen sieht. Unter der Bauchdecke brodelt und wabbert es bedrohlich, als er endlich in dem unteren Teil des Zinksargs liegt.
    »Scheiße, da sind überall Viecher drin!« Die Bestatter sind von ihrem Kunden offenbar wenig angetan.
    Ich gehe zum Heizkörper und drehe ihn aus. Mein Kollege öffnet die Fenster, und eine Wolke von Insekten schießt an uns vorbei ins Sonnenlicht. Dann machen wir alles wieder dicht und versiegeln die Wohnung, in der es für uns im Moment nichts mehr zu tun gibt. Der Leichnam muss obduziert werden, denn noch ist nicht sicher, ob der Mann nicht doch Opfer eines Verbrechens wurde. Die Leiche ist so stark verwest, dass wir das vor Ort nicht feststellen können. Wir würden bei einer Leichenschau mehr kaputt machen als entdecken. Später erfahre ich, dass er an einem Herzinfarkt verstorben ist.
    Jetzt heißt es für uns, die Nachbarn zu befragen. Doch egal, wo wir läuten – nur wenige öffnen uns, obwohl wir hinter fast jeder Tür eine Bewegung wahrnehmen. Noch weniger sind bereit, uns Auskunft zu geben. Den Toten gekannt hat angeblich niemand. Der Geruch? Ja, den habe man wohl wahrgenommen, aber wer mischt sich hier schon in die Angelegenheiten der Nachbarn ein. »Der Geruch ist auch nicht schlimmer als der Gestank nach ausländischem Essen auf dem Flur«,

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