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Seine Zeit zu sterben (German Edition)

Seine Zeit zu sterben (German Edition)

Titel: Seine Zeit zu sterben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Ostermaier
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Mädchen zu liegen und dabei zu versuchen, Andrej auf der Piste zu erreichen. »Endlich! Es läutet. Jetzt wird dieser Idiot wieder Schüsse hören, was für ein idiotischer Klingelton, ich muss es ihm verbieten, oder ich erschieß ihn. Geh ran, jetzt geh ran! Andrej!«
    Vladimir verstummte, er hatte eine Kinderzeichnung aus dem Bauch des Bären gezogen. Ein großer schwarzer Mann und darunter eine Frau, nur ein roter Schuh, eine Strähne, und eine Sprechblase, die aus seinem Rücken steigt mit einem Herzen. »Der Junge interessiert mich nicht. Komm sofort!« Vladimir klappte das Handy zu.

15
    Ödön verstaute das Handy in der Innentasche seines Anoraks. Er schaute auf seine Armbanduhr, das Rennen müsste vorbei sein, die Menschenmenge würde sich neu verteilen, in das Skigebiet strömen, die Lifte würden sie füllen, die Pisten aus ihrer Einsamkeit aufschrecken, die Leere würde sich beleidigt zurückziehen in die Wünsche, und das weiße Blatt würde in kürzester Zeit vollgeschrieben sein, und in den Heißluftballons gab es endlich Grund, auf einen immer bunter werdenden Ameisenhaufen hinabzuschauen.
    Ödön hatte jeden Weg, den er ausprobiert hatte, gestoppt, sich alle Varianten eingeprägt, die Zeiten der letzten Kontrollfahrten notiert und wann die Hütten ihre Gäste hinauswerfen würden, vor allem, wenn oben auf der Ehrenbachhöhe alles verlassen wäre außer dem Hotel. Er war ganz alleine im Hotel. Das Hotel war geschlossen, sie renovierten es.
    Ödön erinnerte sich, wie er in dem Zimmer unter dem Dach saß, auf Augenhöhe mit dem Lift, der die Skifahrer zur Ehrenbachhöhe hinaufschweben ließ. Warum war er in diesem Nicht-Ort hängen geblieben? Weil es ein Nicht-Ort war. Auf der anderen Seite konnte er bis zur Hahnenkamm-Bergstation blicken oder rechts hinunter zum Sonnbühel, das er immer geliebt hatte. Er müsste sich nur die Skier anschnallen, hatte er sich gesagt, und hätte nicht einmal die Schuhe zugebracht in seinem depressiven Zustand. Welche Feste hatten sie dort gefeiert.
    In der Silvesternacht hatte er sogar Joseph kennengelernt. Vom Sehen her kannte er ihn schon lange, aber er war nie in Kontakt mit ihm gekommen. Der Anwalt Joseph Grünsee, Lord, ihren Lord. Ödön hatte sich über Joseph informiert, hatte alle Schnittstellen und -mengen zwischen ihnen überprüft, nachgelesen, gefragt, fragen lassen, beobachtet. Aber er war nicht der Einzige, dem Joseph Grünsee ein Rätsel war, das sie nur zu gerne gelöst hätten. Schien die Lösung so offensichtlich und einfach, rückte sie in die Ferne und er gleich mit, je mehr man über ihn zu wissen glaubte.
    Für Scotty, den Galeristen, war Joseph, das hatte er Ödön in dieser Glamournacht erzählt, ohne zu wissen, wer er war und ohne, dass sie sich an ihn erinnert hätten, ein Englishman in Kitzbühel, auch wenn er aus dem hintersten Schwarzwinkel Osttirols stammt, aus einer engen Stube unter dem Gewitterhimmel, aufgewachsen zwischen zitternden Gräsern, in Schattentälern, wo selbst die Wolken froren, wenn sie eilig über sie hinwegzogen. Er kam aus einem vergessenen Landstrich, durchbohrt von Tunneln, eifersüchtig abgeschirmt von steil aufragenden Felswänden, aus denen die Bergsteiger fielen. Einem Tal, wo sich die tollwütigen Füchse Gute Nacht sagten, wo jeder jeden gebissen hatte und sie alle immun waren und gegerbt gegen die Zeit, die Haut geschliffen an den Wetzsteinen des Winds, die Stirne im Schnee gekühlt, dass kein Sommer sie auftauen konnte für den Gedanken an einen Sommer, der länger bleiben könnte als ein Erschrecken über die Strahlen im Gesicht, das unerwartete Lächeln, das Wort, das ein Jahr gewartet hatte, bis es mit geschlossenen Augen über die Lippen sprang. Jeder Satz war eine Alpenüberquerung mit nackten Füßen. Wenn es einer aus dieser übellaunigen Falte der Natur, aus der atemberaubend kargen Schönheit, hinausschaffte in die so genannte Freiheit vor den sieben Bergen, musste er sich fühlen, als hätte er sich aus einer Lawine befreit. Aber diese Landschaft verließ man nicht, man trug sie sein Leben lang mit sich, ihre Blütensamen in den Blutbahnen, ihre Steine in den Gelenken, das Rufen der Tiere in den Träumen, den Geschmack der Milch auf den Lippen und die Zeitlöcher der Kehlenworte im Kopf, wenn so einer mit sich selbst sprach wie ein Sohn, der heimkehrt, ohne dass die Wunden sich je geschlossen hätten.
    Die Einheimischen trugen das Tal mit in die Welt, aber nie die Welt mit zurück ins Tal, wo sie

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