Seit du tot bist: Thriller (German Edition)
Geschäftsreisen, dazu Kopien von Arts und meiner eigenen Geburtsurkunde. Aber es gibt rein gar nichts über Beth oder meinen Aufenthalt im Fair Angel.
Ich reibe mir die Augen. Vom Lesen all der winzigen Buchstaben tun sie mir schon weh, und der Kopf genauso. Ich räume die Mappen wieder ein, prüfe rasch, ob ich bei der Suche auffällige Spuren hinterlassen habe, gehe nach unten, steige in den Wagen und fahre zu M&S. Wie benommen kaufe ich eine Stunde lang ein, vor allem Knabbersachen und Mixgetränke. Ich bin so in Gedanken, dass ich den vollen Einkaufswagen um ein Haar unbezahlt aus dem Laden geschoben hätte. Erst kurz vor der Tür bemerke ich meinen Fehler.
Ich fahre nach Hause, esse ein paar Cocktailwürstchen und eine Handvoll Salatblätter direkt aus der Tüte, dann schalte ich das Telefon aus und lege mich schlafen. Tagsüber schlafe ich normalerweise nie, aber heute bin ich mit meinen Kräften erst einmal am Ende. Im Schlafzimmer mischen sich unser beider Geschmäcker. Ich mag es schlicht, ordentlich und klar, im deutlichen Kontrast dazu die kräftigen Grundfarben, die Art liebt.
Ich liege unter dem Federbett, kann aber nicht einschlafen. Stattdessen rollen Erinnerungen über mich hinweg wie die Brandung über den Strand – unaufhaltsam.
Mein Dad ist vor langer Zeit gestorben, als ich noch ein Kind war. Ich erinnere mich nicht besonders gut an ihn, aber nach allem, was die Leute mir erzählen, hatte er mit Art eine Menge gemein. Wie Art war er charmant, besessen und begabt. Und eigentlich war er ebenso erfolgreich.
Aber Art ist auf eine Weise sein eigener Herr, wie es Dad nie war.
Dad war Musiker – ein brillanter Gitarrist, der mit allen bedeutenden Bands der Siebzigerjahre gespielt hat, von Pink Floyd bis zu den Rolling Stones. Er war meistens unterwegs, aber wenn er mal da war, machte er alles zur Party. Und wenn er kam, brachte er mir immer exotische Geschenke mit, begrüßte mich mit einem breiten Lächeln und einem albernen Liedchen, das er sich für mich ausgedacht hatte. Meine Königin nannte er mich, völlig ernst, im Spaß – oder Queenie ,wenn er mich wirklich aufziehen wollte. Er hatte langes, dunkles Haar, das ihm beim Gitarrespielen übers Gesicht fiel, und Hände, die morgens immer zitterten.
Ich strecke die Hände aus. Mum sagt, sie seien wie seine – schmal mit langen, sich verjüngenden Fingern. Und mein Mund. Der sei auch wie seiner. Dünne Unterlippe, volle Oberlippe. Beth hätte auch unseren Mund gehabt, denke ich. Was für einen Großpapa Dad wohl abgegeben hätte?
Ich schließe die Augen und weiß noch, wie gut sein Atem roch beim Gutenachtkuss. Erst als ich älter war, begriff ich, dass es Wodka war, den ich so gern gerochen hatte. Die Flaschen hatte er im ganzen Haus versteckt. Einmal, etwa mit sechs, probierte ich davon; ich hatte im Badezimmerschrank unter den Handtüchern eine Flasche gefunden. Ich nippte nur kurz. Mir wurde übel, als sei es eine flüssige Variante des Dufts von Mums Haarspray.
Geniver nannten sie mich nach einer Person in einem Film, den sie vor meiner Geburt auf einer Indienreise gesehen hatten. Es fällt mir schwer, mir vorzustellen, dass Mum – selbst die junge Hippieversion, die ich von Fotos kenne – die raue Freiheit in Indien genossen haben könnte, aber ich mochte es, wenn Dad erzählte, wie sie zusammen Dorffeste und Märkte durchwandert hatten, die schwüle Luft schwer von Kardamom- und Kreuzkümmeldüften.
Dad soff sich noch vor meinem neunten Geburtstag zu Tode. Er war auf Tournee – ironischerweise wieder in Indien –, und zwar mit einer längst in Vergessenheit geratenen Band namens Star Fire. In ihrem einzigen Hit »Fire in the Hole« kann man Dads Gitarrensolo hören. Es heißt, am Tag seines Todes habe er das Lied aufgenommen und dann mit dem Bandmanager gestritten. Und das sei der Anfang einer zehnstündigen Sauftour gewesen, die damit endete, dass er in einer Gasse vor einem Nachtklub am eigenen Erbrochenen erstickte.
In seinem Hotelzimmer fand sich ein kleiner Sari, den er für mich gekauft hatte. Ich besitze ihn immer noch.
Aus einer Laune heraus steige ich aus dem Bett und gehe hinüber zum Ankleidezimmer, das an unser Schlafzimmer anschließt. Arts Sachen nehmen nicht einmal ein Drittel des Raums ein. Der Rest ist mit meinen Kleidern vollgestopft, von denen ich das meiste nicht mehr trage – oder die mir nicht mehr passen.
Ich krame auf dem untersten Regalboden nach dem Packen alter Klamotten, die ich von Mums Haus
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