Seit du tot bist: Thriller (German Edition)
mitgebracht habe, als wir hier einzogen. Ich finde meine Brownie-Uniform, voller Plaketten, und meine Schulkrawatte, blau und weinrot gestreift. Darunter liegt der Sari. Rote Seide. Getragen habe ich ihn nie. Er passte nach Dads Tod nur noch ein paar Monate, und ihn zu tragen hätte mich damals zu sehr geschmerzt. Was, wenn ich ihn zerrissen hätte? Oder etwas draufgekleckert? Ich bewahrte ihn auf, makellos, als Schatz, als wertvolles Andenken. Und eines Tages wollte ich mich dann doch darin sehen, vor meinem Schlafzimmerspiegel, aber ich war herausgewachsen. Ich musste weinen und an Dad denken, wie er ganz alleine starb. Er fehlte mir.
Es ist schon komisch – ich kann mich nicht erinnern, dass er in meiner Gegenwart jemals betrunken gewesen wäre. Manchmal frage ich mich, ob er wirklich so schlimm war, wie Mum immer behauptet. Musiker brauchen eben gewisse Freiheiten, und Feiern gehört eben zum Geschäft.
Zu Art fühlte ich mich auch deswegen hingezogen, weil auch er seinen Vater während der Kindheit nicht um sich hatte. Er weiß, was es bedeutet, wenn einem ein Elternteil fehlt, wenn man jung ist, wenn man diesen Elternteil vergöttert und sich gleichzeitig selbst die Schuld an seiner Abwesenheit gibt.
Ich fasse unter den Sari und ziehe etwas hervor, das ich dort verborgen weiß: einen kleinen weißen Strampler. Er ist das einzige Stück Babykleidung von Beth, das ich aufgehoben habe. Alles andere habe ich Hen gegeben – das fand ich damals das Beste, weil sie für Nathan kaum Geld hatten.
Ich nehme den Strampler und drücke ihn mir ans Gesicht. Nach Beths Tod trug ich ihn ein ganzes Jahr lang mit mir herum, nahm ihn sogar mit ins Bett. Am Tag, als wir Beths Asche verstreuten, packte ich ihn schließlich weg. Seit Jahren habe ich ihn zum ersten Mal wieder hervorgeholt, und während er weich an meiner Wange liegt, bemerke ich, dass er keine Macht mehr über mich hat. Er ist nur noch ein Wäschestück. Ungetragen. Unbenutzt. Dass ich ihm einmal solche Bedeutung zugemessen habe, erstaunt mich jetzt.
Könnte Art mich über Beth angelogen haben?
Die Frage springt wie eine Flipperkugel in meinem Kopf herum.
Lächerlich. Unmöglich. Selbst wenn er zu solch einem Vertrauensbruch fähig wäre, aus welchem Grund sollte er an einem Plan mitwirken, uns unser Kind – unser erstes und einziges, lang ersehntes Kind – wegzunehmen?
Ich packe den Strampelanzug und den Sari wieder weg und lasse mir ein Bad ein.
Ich rufe mir wieder den Augenblick in Erinnerung, als Art mir sagt, dass Beth tot ist. Wir haben sie verloren. Mit einem Mal klingt das zweideutig. Verloren an wen?
Ich schließe die Augen und denke daran, wie Art in meinen Armen geweint hat, und ich in seinen. Tag für Tag wurden wir daran erinnert, dass wir kein Baby hatten, denn niemand hatte meinem Körper Bescheid gesagt: Mein Bauch sackte ein und schmerzte unter der langen, grellroten Kaiserschnittwunde, während Milch, die keiner brauchte, aus meinen Brüsten rann. Jeden Morgen ging Art am Fluss entlang, die Hände in den Taschen, die Schultern gebeugt. Ich sah ihn von meinem Fenster aus, und sein ganzer Körper drückte Verzweiflung aus. Bei der Trauerfeier brach auch er zusammen. Ich beobachtete ihn durch den dumpfen Schutzwall meiner eigenen Trauer, als seine Beine nachgaben und Morgan ihm half, als er mit geröteten Augen aus dem Krematorium stolperte.
Es ist nicht möglich, auch nur irgendetwas von dem zu glauben, was Lucy O’Donnell gesagt hat. Und dennoch sagt mir mein Bauchgefühl, dass sie nicht gelogen hat. Ich tauche tiefer ins Wasser, lasse es über meinen Bauch schwappen, den Ort, wo Beth einst in mir tanzte.
Im warmen Wasser schlafe ich schließlich ein. Im Traum bin ich wieder im Haus meiner Kindheit. Ich verstecke mich unter dem Bett, bin wieder ein Kind, das Dads Gitarre wie eine Schmusedecke an sich drückt. Dann ruft jemand nach mir, die junge Ärztin aus der ersten Klinik, wo Art und ich mich untersuchen ließen, nachdem ich nach neun Monaten noch immer nicht wieder schwanger geworden war. Sorgen mache ich mir deswegen keine – nicht wirklich. Beim ersten Mal ging’s ja auch ohne Probleme. Die Ärztin wendet sich an mich. Sie lächelt. »Wir können bei Ihnen nichts feststellen«, sagt sie. »Sie sind ja beide noch jung. Das braucht einfach seine Zeit.« Sie drückt mir den Arm. »Hören Sie. So etwas braucht eben seine Zeit. Und dann kommt das Baby doch. Geben Sie ihm Zeit.« Sie drückt mir den Arm. »Geniver. Geben Sie ihm
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