Seit du tot bist: Thriller (German Edition)
oder daran erinnert zu werden, wie mein eigenes Leben als Mutter verlaufen wäre. Sie begriff als Einzige, warum ich mich nach Beths Tod als Mutter verstand. Für die meisten war das völliger Unsinn – als sei ich für die Mutterrolle eigentlich gar nicht qualifiziert. Für mich war Beth aber genauso wirklich wie jedes andere Baby, und wenn ich mich nicht Mutter nennen durfte, dann war das, als müsse ich ihre Existenz leugnen. So läuft das mit der Trauer nach einer Totgeburt – lauter kleine seelische Qualen, die einen verunsichern und von den anderen absondern. Keine Erinnerungen, an denen man sich festhalten kann, keine ausgeprägte Persönlichkeit, deren Verlust man betrauern kann, nur das Gefühl, etwas verloren zu haben, das für immer unerreichbar bleiben wird.
Hen legt mir die Hand auf den Arm. »Ich weiß, dass es schon ohne eine bescheuerte Frau, die lächerliche Behauptungen aufstellt, schwer genug ist.« Ihr Blick ruht auf mir, und ihre ansonsten immer lebhaften Augen sind voller Verständnis. »Vielleicht hilft es ja, wenn du die ganzen Bescheinigungen und Unterlagen noch mal durchgehst. Vielleicht musst du das alles einfach noch einmal sehen, damit du darüber hinwegkommst.«
Auf dem Nachhauseweg denke ich darüber nach. Hen hat recht; es wäre wohl gut, wenn ich mir alle Papiere noch einmal ansähe. Das Problem ist nur, dass ich nicht weiß, wo Art das alles hingepackt hat. Bei meiner Suche habe ich in seinem ganzen Büro nichts davon finden können.
Es dauert ewig, bis ich zu Hause bin. Der Bus kriecht die Seven Sisters Road entlang. Es muss einen Unfall gegeben haben, und jetzt schleichen alle dran vorbei und gaffen. Daheim sehe ich an allen möglichen Stellen nach – in den Schränken im Flur und im Schlafzimmer und natürlich auch in Arts Büro, obwohl ich schon weiß, dass ich dort nichts über Beth finden werde – es sei denn, es wäre im verschlossenen Schrank.
Ich finde nichts. Nirgends.
Um zehn kommt Art nach Hause. Ich höre ihn ins iPhone sprechen, während er die Treppe herauftappt. »Ist das nun Wert oder Volumen, Dan? Da müssen wir ganz sicher sein.«
Er beendet das Gespräch, als er ins Schlafzimmer kommt. Er hat dunkle Ringe unter den Augen, und sein Hemd ist zerknittert. Er sieht ausgelaugt aus, aber glücklich. Ich lehne mich ins Kissen zurück und beobachte, wie er durch den Raum geht.
»Hey«, sagt er und setzt sich neben mir auf die Bettkante.
»Hey.« Ich frage ihn, wie sein Tag war, und er erzählt eine Weile von der Besprechung in Downing Street Nummer zehn.
»… und dann ist der Premier hereingekommen. Er ist viel kleiner, als er im Fernsehen aussieht, und er hat sich garantiert Botox spritzen lassen oder so was. Keine einzige Falte auf der Stirn. Er hat sich ausdrücklich für mein Kommen bedankt. Sandrine und ich haben die Strategiefuzzis über die geplanten Arbeitsförderungsmaßnahmen ausgequetscht, besonders den Teil, wo sie durch Unterstützung ethisch bestimmter Entscheidungen die Produktivität ankurbeln wollen. Der Premier hat die Bilanzen von Loxley Benson zuerst gar nicht glauben wollen.« Art grinst. »Er hat mir zugehört , Gen. Wirklich.«
»Hört sich großartig an«, antworte ich. Ich meine das auch, aber gleichzeitig arbeitet sich mein Verstand wie besessen an allem ab, was ich den Tag über gedacht habe. Ich warte ab, bis er zu Ende erzählt hat, und hole tief Luft. »Art?«
Ich sehe ihm in die Augen. »Ich glaube ehrlich kein Wort von dem, was diese Verrückte gestern gesagt hat, aber, wie ich schon gesagt habe, mir ist das nun alles wieder in den Sinn gekommen, und da hätte ich … ich hätte mir deswegen gerne einmal Beths Totenschein angesehen, aber ich weiß nicht, wo er ist … auch die anderen Sachen nicht …«
»Gen …« Art schüttelt den Kopf, spannt deutlich sichtbar den ganzen Körper an. »Was soll das bringen, das Ganze noch einmal durchzugehen? Damit quälst du dich doch nur.«
Mit einem Achselzucken sage ich: »Manchmal muss ich eben zurückgehen, um vorwärts zu kommen.«
Er wirft mir ein müdes Lächeln zu. »Du bist verrückt«, meint er liebevoll.
»Dann bin ich eben verrückt.« Ich ringe mir auch ein Lächeln ab. »Wo ist denn nun der ganze Papierkram von damals?«
Ich bin mir so sicher, dass er antwortet, das sei alles verloren gegangen, oder dass er sich nicht daran erinnert, und bin wirklich geschockt, als er die Beine vom Bett schwingt und sich mit einem abgespannten und besorgten Gesicht vor mich
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