Seit du tot bist: Thriller (German Edition)
hinstellt.
»In dem versperrten Schrank oben in meinem Büro. Dort habe ich alles hingeräumt, weil ich es nicht unter den Augen haben wollte. Ich geh’ die Sachen holen.«
Er ist draußen, bevor ich antworten kann.
Ich sitze auf dem Bett, meine Innereien ein einziger Knoten. Bin ich Art gegenüber grausam wegen dieser Sache? Ich denke wieder an diese erste Woche nach der Totgeburt … An viel kann ich mich nicht erinnern. Nur ein paar kurze Unterhaltungsfetzen. Ich weiß noch, wie Art über die Trauerfeier gesprochen hat – er wollte eine Feuerbestattung, bestand aber darauf, dass wir das gemeinsam entscheiden. Damals war das für mich das am wenigsten bedeutsame Detail der Welt. Jetzt bedeutet es allerdings, dass es nichts zu exhumieren gibt. Keinen Beweis für den Tod.
Mich schaudert. Ich werde langsam morbide.
Oben knarren heftig die Dielen unter Arts Füßen. Ich lehne mich ins Kissen zurück.
Beths Asche verstreuten wir im darauffolgenden April. Ich war auf Anraten von Art und Hen mehrere Monate in psychiatrischer Behandlung gewesen, und mir war, als tauchte ich langsam wieder aus dem Meer meiner Trauer auf, als wärmte die Frühlingssonne mir endlich wieder das Gesicht. Damals begriff ich noch nicht, dass nicht nur die Jahreszeiten in stetigem Kreislauf wechseln, sondern auch die Trauer. Wenn ich gerade wieder fürs Leben bereit zu sein schien, zog es mich wieder unter Wasser, wo ich im Schmerz ertrank. Wenn ich in jenem Jahr schwanger geworden wäre, hätte es vielleicht anders ausgesehen. Aber so zog mich jeder neue Versuch mit künstlicher Befruchtung tiefer unter die Wellen.
Die lose Diele oben knarrt ein letztes Mal, dann poltern seine Schritte die Treppe herunter, und er ist wieder da, mit einem roten Schuhkarton unter dem Arm. Er stellt ihn auf dem Bett ab.
»Hier ist alles drin.« Er erwidert meinen Blick nicht. »Ich gehe erst mal unter die Dusche.«
Er verschwindet im Bad. Ich weiß, er ist verletzt und fürchtet, dieses Stochern in der Vergangenheit könnte bei mir eine neue Krise auslösen.
Aber ich muss mich der Wahrheit stellen.
Mit pochendem Herzen nehme ich den Deckel von der Schachtel. Das Erste, was ich in die Hand bekomme, ist der Totenschein. Ich starre auf Beths Namen – wir hatten ihn gleich beim ersten Anbranden der Trauer ausgesucht, weil er so zart und zerbrechlich klang, ein einfacher Name wie ein leiser Seufzer. Beth Loxley. Seltsam, ihn geschrieben zu sehen. Ich streiche mit dem Finger über die Worte – der Name einer Person, die nie wirklich eine Person war. Es gibt kein Wort für das, was Beth ist, so wie es kein Wort für die Mutter eines tot geborenen Kindes gibt. Das Fehlen eines Etiketts stört mich nicht, aber dadurch wird es schwieriger, über das Geschehene zu reden. Das Reden ist ohnehin schwierig genug. Wenn Fremde fragen, ob ich Kinder habe, muss ich mich entscheiden, ob ich von Beth erzähle, was mir zu persönlich ist, oder verneinen, was sich dann wieder anfühlt, als würde ich sie verleugnen.
Ich sehe die Unterlagen durch. Trauriger machen sie mich jedenfalls nicht, bemerke ich. Da sind vor allem die offiziellen Formulare, nichts als Tatsachen und Zahlen. Unter dem Totenschein der Meldebehörde liegt die Bescheinigung der Klinik über die Totgeburt, unterschrieben von Dr. Rodriguez. Mir fällt wieder ein, dass Art mir erklärt hat, dass er diese auf dem Amt vorlegen musste, um den Totenschein ausgestellt zu bekommen. Ich lese das Blatt genau durch und blättere dann die restlichen Unterlagen durch. Das meiste hat mit den Formalitäten der Bestattung zu tun. Ein Faltblatt von Tapps Funeral Services samt einem Brief vom Bestatter Mr. Tapps persönlich, der uns sein Beileid ausspricht und einige praktische Vorschläge zur Anmeldung beim Krematorium und zum Datum der Trauerfeier macht.
Ich will jetzt eigentlich nicht an die Trauerfeier denken, aber das Bild von Beths winzigem Sarg bahnt sich trotzdem den Weg in mein Bewusstsein … Die beiden weißen Lilien, die Art und ich darauf legten, und das taube Geflüster meiner Seele, als ich auf sie starrte.
Im Badezimmer rauscht nun die Dusche.
Ich schließe die Augen. Was tue ich hier eigentlich? Art war völlig außer sich bei der Trauerfeier. Er konnte sich kaum auf den Beinen halten. Wie kann ich es wagen, ihn das alles noch einmal durchleben zu lassen?
Es reicht.
Ich greife mir das ganze Bündel. Als ich alles wieder in die Schachtel lege, fällt eine Visitenkarte aufs Bett. Dr. Rodriguez’ Karte
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