Seit jenem Tag
lasse die Rechnung kommen. Er packt meine von Wachs verklebte Hand, drückt sie und hält dann den Kopf schief, um mich zu betrachten. Es liegt nicht nur am Tequila, dass er so sentimental ist.
»Ich möchte einfach … ich weiß nicht, ich möchte, dass du das Gleiche findest. Du verdienst es, Livvy, du verdienst es wirklich.
Ich habe James nichts von dem Chip erzählt, warum weiß ich nicht. Ich empfinde es als Geheimnis, als Geheimnis zwischen mir und ihr. Als ich in meinem Zimmer bin, lege ich ihn auf meinen Frisiertisch, um ihn zu fixieren und mir Mut für die Recherche zu machen. Ich habe Schuldgefühle, als würde ich gleich eine Grenze überschreiten, aber vielleicht stellt sich ja heraus, dass alles ganz harmlos ist und William unbesorgt sein kann. Aber wenn nicht – dann könnte ich ihm wenigstens bei den Auswirkungen helfen.
Ich tippe » Capricorn Holdings« + New York in meinen alten Laptop ein und warte auf die Ergebnisse. Ein Korrekturvorschlag erscheint: Capricorn Holdings, New Jersey. Man sieht das Foto eines düster wirkenden Gebäudes und ein Textbanner, das unten über den Bildschirm läuft: Capricorn Buildings, Aufbewahrungslösungen. Wenn Sie Platz in Ihrem Leben brauchen.
Vielleicht ist es genau das, was sie brauchte. Ich werfe einen Blick auf meine Uhr und errechne die Zeitdifferenz, dann fahre ich meinen Skype-Account hoch, bevor ich den Mut verliere. Eine brüsk klingende Frau meldet sich.
»Hi«, sage ich und versuche Sallys unerschütterliches Selbstvertrauen zu kopieren, »ich habe einen Lagerraum bei Ihnen. Ich wollte nur überprüfen …« Was überprüfen? » … ob es ihn noch gibt.« Das ergibt überhaupt keinen Sinn.
»Name?«, blafft die Frau.
»Sally Harrington«, sage ich, und ein Schauder erfasst mich, weil ich dem Gefühl, ihr Grab zu schänden, nichts Rationales entgegensetzen kann.
»Bitte warten Sie.«
Es dauert eine Ewigkeit, und ich versuche gegen die Angstwellen anzuatmen, die mich ständig überrollen. Endlich höre ich sie zurückkommen.
»Es gibt kein Konto auf diesen Namen.«
»Sind Sie sich da absolut sicher?«
»Aber natürlich bin ich mir sicher!«, ereifert sich die Frau, deren Kompetenz ich infrage stelle.
»Würde man es sehen, wenn es vorher eins gab, das dann aber abgemeldet wurde? Irgendwas auf den Namen Harrington?«
»Es gibt kein solches Konto, hat es nie gegeben. Sie haben sich geirrt.«
Sie legt auf, ohne sich zu verabschieden, und ich sitze da und starre gebannt auf ein kleines Stück Plastik, das ich in der Hand halte, und habe keine Fragen mehr.
Juni 1996
Sally fuhr die ganze Strecke nach Norwich, obwohl ich viel lieber den Zug genommen hätte. Ihr Fahrstil hatte was von einem Computerspiel, sie fuhr dicht auf und zwang Autos, für sie Platz zu machen, trat abrupt auf die Bremse, wenn sie einen Blitzer entdeckte. Ich selbst hatte noch keinen Führerschein, aber ich wusste, dass zwischen ihrer Fahrweise und dem peinlich genauen Blinkersetzen und behäbigen Dahinschleichen meines Vaters Welten lagen.
Mein unausgesprochenes Unbehagen hinsichtlich der Reise verstärkte sich dadurch noch. Ich hatte von meiner Seite den Kontakt zu James noch nicht wieder aufgenommen, doch die beiden waren in Verbindung geblieben. Sally berauschte sich an ihrer eigenen Cleverness und schlüpfte in die Rolle der UN -Friedenstruppen, aber ich fühlte mich von ihr überrollt. Das versuchte ich ihr auch auf nette Weise zu vermitteln, sie ließ es allerdings nicht gelten. »Du hättest ihm frühestens aus deinem Pflegeheim einen Liebesbrief geschickt, wenn ich mich nicht eingemischt hätte. Du musst mal lockerer werden und ein wenig leben!«
Damit hatte sie fraglos recht, also warf ich meine Zweifel über Bord und hoffte das Beste. Außerdem war es gut, eine Ausrede zu haben, um wegzukommen. Lola stand jetzt ebenfalls auf der Liste der Leute, die nicht mehr mit mir sprachen – sie blieb die meiste Zeit bei Justin, aber ein paar Mal lief ich ihr doch über den Weg, und ihr Blick, mit dem sie mich als Verräterin brandmarkte, gab mir das Gefühl, ein Nichts zu sein. Als ich Sally erzählte, wie schlecht ich mich fühlte, stimmte sie mir zu. »Wir werden es bei ihr wiedergutmachen«, sagte sie, ich glaubte allerdings nicht daran, dass sich etwas so Kostbares, was wir da kaputtgemacht hatten, wieder reparieren ließ.
Gegen acht Uhr trafen wir vor James’ Bude ein, und mein Herz raste in meiner Brust, als wollte es sich daraus befreien, meine Hände waren kalt
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