Seit jenem Tag
mir Mühe, mich nicht von meiner Sehnsucht aus dem Sattel werfen zu lassen. Ich schaffte das, ich hatte es noch immer geschafft, ich musste einfach wieder lernen, wie es ging.
Als das Wochenende vorbei war, glaubte ich tatsächlich, dass ich es genossen hatte.
»Auf Wiedersehen, du«, sagte Sally und warf sich ihm theatralisch an den Hals.
»Tschüss«, sagte er zärtlich und umarmte sie.
»Du musst uns mal in unserer neuen luxuriösen Behausung besuchen«, ergänzte sie ohne eine Spur von Schuldbewusstsein darüber, wie wir dazu gekommen waren. Dann war ich an der Reihe, ihn zu umarmen.
»Es war schön, dich zu sehen«, sagte ich und hoffte, nicht zu viel Gefühl in meine Worte zu legen.
»Ja, fand ich auch«, sagte er, und eine Sekunde lang trafen sich unsere Blicke und bestätigten stillschweigend, was uns einander entfremdet hatte.
»Nun komm schon, an Sonntagen ist immer so viel Verkehr«, drängte Sally und warf ihre Wagenschlüssel von einer Hand in die andere. Ihre rot lackierten Nägel waren regelrechte Krallen.
Auf der Fahrt drehte sie Beverley Craven voll auf.
»Sag danke zu deiner Tante Sally«, sagte sie und grinste mich an.
»Danke, Tante Sally«, plapperte ich ihr nach und schluckte alle unangenehmen Gefühle hinunter, die an die Oberfläche zu steigen drohten. Sie lachte voller Übermut und beschleunigte dann derart rasant, dass ein Lastwagen ausscheren musste, um nicht mit uns zu kollidieren, was er mit wütendem Hupen begleitete.
Kapitel 15
»Sally hätte es hier gefallen«, sagt Lola mit Tränen in den Augen.
Wir haben uns in einem französischen Weinlokal, einem meiner Lieblingslokale, hinter dem Oxford Circus verabredet. Trotz seiner zentralen Lage geht es dort sehr zwanglos zu, die einzigen Lichtquellen sind Stumpenkerzen, deren geschmolzenes Wachs sich ungehindert über die immer vollbesetzten Tische ergießen darf, der Wein wird in schlichten Glasbechern serviert. Allerdings bekäme man dort nicht für noch so viel Geld einen Martini serviert, und deshalb würde Sally sich hier garantiert nicht wohlfühlen.
»Ich weiß«, sage ich und drücke ihre Hand. Wir sind erst fünf Minuten hier, und schon lüge ich. Aber es ist wenigstens eine Notlüge, denn ich bin entschlossen, uns nicht wieder in jene grausame Dreierkonstellation hineinziehen zu lassen, die unsere Jahre in Leeds bestimmt hat. Und doch ist es komisch, dass wir beide hier ohne Sally zusammensitzen.
»Also wirklich, Livvy«, sagt Lola und lächelt tränenreich. »Du strahlst ja geradezu.«
»Tatsächlich?«, erwidere ich schuldbewusst. Natürlich bin ich mir darüber bewusst, dass aus William und mir nichts werden kann, aber ich treffe ihn am Sonntag, und ich kann meine Vorfreude nicht verbergen. Bis jetzt jedenfalls nicht. Lola sieht verhärmt aus, hat dunkle Ringe unter den Augen, die sie so dick mit Abdeckcreme zugekleistert hat, dass sie die Aufmerksamkeit geradezu anziehen – sie verbreitet Traurigkeit wie die Kerze zwischen uns Licht. »Du siehst auch gut aus«, versichere ich ihr, weil es grausam wäre, das Gegenteil zu sagen.
»Ich fass es noch immer nicht«, entgegnet sie. »Ständig rechne ich damit, dass mein Handy klingelt und Sally dran ist, die mich von Saks oder einem anderen unglaublich glamourösen Einkaufstempel anruft, während ich durch den Supermarkt von Guildford kurve.«
»Ich weiß«, sage ich. Ich weiß es zwar nicht genau, doch ich weiß sehr wohl, wie es sich anfühlt, auf einen Anruf von Sally zu warten, der nie kommen wird. Wie dumm von mir, immer darauf zu bauen, dass noch Zeit bliebe. Aber wenn ich sie bedrängt hätte, hätte ich sie wirklich und wahrhaftig zurückhaben wollen?
»Sind Sie bereit zu bestellen, Mesdemoiselles?«, sagt der dunkelhaarige Charmeur von einem Kellner, der sich uns mit seinem Block in der Hand nähert. Wir sind eigentlich Mesdames, aber so ein kleiner Flirt tut richtig gut. Wir bestellen eine Flasche wärmenden Roten, dazu einen stinkenden Käse und machen es uns in unserer Ecke bequem. Während wir uns in Gedanken an die Zeit erinnern, als wir tatsächlich Desmoiselles waren, werde ich plötzlich auch ganz rührselig und bin den Tränen nah. Ich hätte um meine Freundschaft mit Lola härter kämpfen, den Schaden wiedergutmachen sollen, den ich angerichtet hatte, und eine Freundschaft aufbauen müssen, in der es nicht mehr um Sally ging.
»Es ist schön, dich zu sehen«, sage ich und stoße mit ihr an. »Es tut mir – es tut mir immer noch leid, Lola, wie
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