Seit jenem Tag
sein, die Zeichen zu deuten, wie jemand, dessen Leben am seidenen Faden hängt und der noch in der Notaufnahme störrisch behauptet, die stechenden Schmerzen in seiner Brust rührten von einer Magenverstimmung her. Zwei Gläser stehen inzwischen auf dem Tisch, und obwohl ich mir nichts Schlimmeres vorstellen kann, kippe ich meins hinunter. James legt beschwipst seinen Arm um mich und macht der Kellnerin mit seiner freien Hand Zeichen.
»Jetzt hör auf, das Thema zu wechseln. Los, was ist mit William?«
Ich sehe ihn an und fasse spontan den Entschluss, weder zu lügen noch die Sache herunterzuspielen: Er ist nicht der Einzige mit einer Geschichte. Ich erzähle ihm alles und erkenne dabei, dass es gleichzeitig alles und nichts ist. Wir haben kaum mehr getan als uns geküsst, und doch fühlten sich diese intimen Momente intimer an als bisher ganze Beziehungen.
»Du weißt schon, dass das zu nichts führt?«, meint er, als ich fertig bin. Genau meine Rede: Doch es überrascht mich, wie sehr es mich trifft, wenn es ein anderer ausspricht.
»Ja, nein«, sage ich, tauche meine Finger in das Wachs der Kerze und drücke dann heiße kleine Fingerabdrücke auf die fettige Papiertischdecke.
»Du bist manchmal einfach zu nett, Livvy.«
»Was meinst du damit?«
»Ich kann mir gut vorstellen, wie es passiert ist«, entgegnet James leichthin. »Ich meine, ich kann mir vorstellen, was er durchmacht.« Dieser Satz sagt sich so leicht, und ich weiß, dass auch ich ihn anfangs überstrapaziert habe. Es ist eine Du-kommst-aus-dem-Gefängnis-frei-Karte, mit der man mühelos einer Tragödie, die zu brutal ist, ausweichen kann: Aber jetzt möchte ich William einfach nicht mehr in seiner Zelle vor sich hin rotten lassen. Plötzlich brüllt James mir einen Jubelruf ins Ohr, sodass ich aus der Haut fahre. »Sie haben ein Tor geschossen«, sagt er und stupst mich in die Rippen.
»Wer?«
» CS Marítimo!«
»Oh. Okay. Es fällt mir schwer, das gewünschte Maß an Begeisterung aufzubringen, trotz des Schulterklopfens und der Umarmungen unter den Männern an der Theke, denen James mit seinem Glas zuprostet, was sie erwidern und uns somit in ihrer Mitte aufnehmen. Typisch James: Es fällt ihm so leicht, gegen den Strom zu schwimmen und in jeder Situation etwas Positives zu entdecken, selbst wenn die Welt seiner inneren Wirklichkeit den Spiegel vorhält. Das habe ich immer geliebt an ihm, doch vermutlich fällt es ihm tatsächlich leicht, weil er sich nie besonders anstrengen musste, um etwas oder jemanden zu bekommen.
»Aber ich sage dir, was ich mir wirklich nicht vorstellen kann«, ergänzt er. »Er und Sally.«
Das sehe ich vollkommen anders – nicht nur, dass ich es mir vorstellen kann, ich kann gar nicht aufhören, es mir vorzustellen, und wenn ich es tue, sehe ich nur, wie er von ihr verschlungen wird, wobei diese dunklen Blitze ihre Macht über ihn nur noch verstärken. Ist ihr tatsächlich die ultimative Verführung gelungen, indem sie sein Leben auf so spektakuläre Weise beendet? Vielleicht hat sie gespürt, dass selbst er irgendwann die Geduld verlieren würde: Jetzt jedoch bleibt sein Herz scheintot zurück, gefangen in Fragen, für die er sie nie mehr wird zur Rechenschaft ziehen können. Unbewusst tasten meine Finger nach dem Chip, der in der Innentasche meiner Handtasche steckt. Sobald wir nach Hause kommen, werde ich Capricorn Holdings googeln.
»Sie sind meines Erachtens ein Beweis dafür, dass Gegensätze sich anziehen«, erwidere ich neutral, da ich keine Ausflüchte mag.
»Und das glaubst du wirklich?«, hakt James nach und hat dabei sein verschmitztes Lächeln im Gesicht. Im Moment gibt es nur einen Weg.
»Darum geht es doch, oder?« Ich nehme diese Angelegenheit unangemessen persönlich. »Wenn dich jemand ergänzt, dann muss er doch über Qualitäten verfügen, die du selbst nicht besitzt.«
»Nein«, sagt James. »Es geht darum, was einen verbindet. Man möchte doch, dass der andere einen komplementiert und nicht ergänzt.« Aha. »Das ist ja so großartig an Charlotte – sie hat Mut, sie lässt mir nicht alles durchgehen.« Er blickt wehmütig ins Leere. »In ihr habe ich das adäquate Gegenüber gefunden.«
Und da tut es wieder weh. Warum kommt er nicht auf die Idee, dass die Person, die neben ihm sitzt, Grimassen schneidet und Tequila kippt und ihm an drei von sieben Tagen sein Essen kocht, ihn irgendwie komplementiert? Bin ich wirklich zu nett?
»Wir sollten jetzt gehen, hörst du«, sage ich und
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