Seit jenem Tag
uns sicherlich!
Sally x
Ich las ihn mir immer wieder durch in der Hoffnung, er würde dadurch weniger niederschmetternd. Der Brief war wie ein Puzzle, in dem Spuren von Wahrheit mit einem Labyrinth aus Lügen verwoben waren, ein derart dichtes Geflecht aus echten Gefühlen und Manipulation, dass beides nicht mehr auseinanderzuhalten war. Ich glaubte sie zu hassen, aber so einfach war es natürlich nicht. Ich ließ jene letzten Monate immer und immer wieder im Geiste Revue passieren und versuchte herauszufinden, was real war. Hat Sally tatsächlich die ganze Zeit über nur ihre Abwehr aufzubauen versucht, um eine Chance zu haben, mich, wenn es schließlich herauskam, auf ihrer Seite zu wissen, oder war es viel abgründiger? Genoss sie es womöglich, dass ich nur allzu bereit war zu vergessen, und lachte sich ins Fäustchen, weil es ihr gelungen war, mir das zu entreißen, was ich mir am meisten wünschte, und mit Füßen zu treten?
Bald darauf war Weihnachten. Jules’ Besuch war nur kurz, und sie hatte Phil im Schlepptau, weshalb wir kaum zum Reden kamen. Außerdem wusste ich von ihrem Besuch in Leeds, dass sie von Sally nicht sehr angetan gewesen war und die alles aufzehrende Freundschaft mit Sorge betrachtet hatte, und fürchtete daher ein schwesterliches »Hab ich es dir nicht gesagt?« Der Weihnachtstag bedeutete einen anstrengenden Elternbesuch nach dem anderen. Wir fingen bei Dad an, hörten uns vor seinem winzigen Baum Weihnachtslieder auf Radio Three an und teilten eine Packung Mince Pies zwischen uns vieren auf. Dann war Mum an der Reihe: Der Tisch bog sich unter dem in Massen vorbereiteten Essen, und ihre Fröhlichkeit war so beängstigend wie ein Schlachtruf. Da war kein Platz für Nostalgie, es war pure Propaganda, dafür gedacht, uns mitzuteilen, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte und wir alle damit glücklicher dran waren. Darin steckte ein wahrer Kern, aber es war nicht die ganze Wahrheit, und ich saß zwischen allen Stühlen. Mit Phil im Schlepptau hatte Jules es leichter, denn er fungierte als Puffer zwischen damals und jetzt, doch ich empfand den Kontrast als körperlichen Schmerz.
Ich war zu einem Magneten für Traurigkeit aller Art geworden – ein Obdachloser, der im Schnee bettelte, ein Kind, das hinter seinem teilnahmslosen Bruder herzockelte –, jedes Anzeichen von Leid schlug bei mir an und erschütterte mich bis ins Mark.
Und dann war es an der Zeit, wieder nach Leeds zurückzukehren. Ich erzählte Mum ein wenig von meinen Schwierigkeiten, schämte mich aber der Rolle, die ich dabei spielte, und zwar nicht nur der im letzten Teil, sondern in all den anderen Situationen, in denen ich auf Leuten herumgetrampelt war, weil ich nur meine Belohnung im Blick hatte. Inzwischen hatte ich mich ein paar Mal mit James getroffen, doch auch das war hart. Er war ein Junge – soweit er davon betroffen war, betrachtete er die Situation als geklärt, und wir wussten, wer der Feind war. Damit gab er mir mehr denn je das Gefühl, einer seiner Kumpels zu sein, was ich im Moment nicht gut ertragen konnte.
Im Studentenheim war kein Zimmer frei, eine Tatsache, die Sally bekannt gewesen sein muss. Catherines Haus war so überfüllt, dass ich auf einer Luftmatratze in ihrem Zimmer schlafen musste, und alle anderen, die mir einfielen, waren bereits versorgt. Ich weiß nicht, wie sie es geschafft hatte, Lola mitten im Trimester zum Umzug zu bewegen, aber dank ihrer unbändigen Willenskraft fand sie natürlich Mittel und Wege.
Ich hingegen hatte nicht das Gefühl, dass meine Willenskraft viel auszurichten vermochte. Catherine ließ mich so lange bei sich wohnen, bis ich wieder Land sah, tat dies aber so widerwillig, dass ich einwilligte, bei ein paar Medizinern im zweiten Studienjahr einzuziehen, um ihr nicht länger zur Last zu fallen. Ich hatte versucht, mit ihr über das zu reden, was passiert war, doch ihre Gesprächsbeiträge erschöpften sich in Antworten wie »Tut mir leid, dass du dich so fühlst!« und machten mich eher wütend.
Und schon bald fand ich auch den Grund dafür heraus. Sally hatte schon in einem ganz frühen Stadium, als ich mich noch zu Hause in meinem Zimmer verbarrikadiert hatte, den anderen aufgelauert und sie heulend angerufen, um ihr Herz auszuschütten. Für das Bild, das sie zeichnete, bediente sie sich wieder jener brillanten Mischung aus Fakten und Lügen und hatte die Landminen so geschickt ausgelegt, dass sie, wenn ich mich zu verteidigen versuchte, bereits die
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