Seit jenem Tag
billiger als die professionellen Verpackungskartons, die die Scheune gefüllt hatten. Es erinnert eher an das willkürliche Chaos unserer Studentenumzüge, wo die Kleider über den ganzen Fußboden verteilt lagen. Dass ich so wenig Zeit habe, ist vermutlich ein Gottesgeschenk, denn ich kann mir Melancholie nicht leisten. Die Kleider scheinen eine Mischung aus oft getragenen Lieblingsstücken und nagelneuen Sachen zu sein, an denen noch die Etiketten hängen. Ihre Kleider scheinen zahllos zu sein und zeugen davon, wie gerne sie shoppen ging. Ich wühle hektisch und bin entschlossen, mir jeden Karton vorzunehmen. Der letzte Stapel steht in der Ecke vor einem winzigen Fenster. Als ich den obersten Karton abnehme, der von Klebestreifen unordentlich zusammengehalten wird, gibt der Boden nach, und unzählige Papierstapel kippen über den Boden. Eine Staubwolke nimmt mir den Atem und hüllt mich in grauen Nebel ein. Obenauf liegt ein offiziell aussehendes Dokument in einer verstärkten Mappe mit einem vorne draufgeklebten Post-it – Für Dich x steht in Sallys unleserlicher Handschrift darauf geschrieben. Ich spüre sie mit meinem Finger nach, und mir kommen die Tränen, weil mir all die Notizen und die Karten wieder einfallen, die sie mir geschrieben hat. Auch diese Schrift ist wieder eine Spur von ihr, ihr einzigartiger Stempel, den sie der Welt aufgedrückt hat, und der jetzt für immer verloren ist. Das schrille Klingeln meines Telefons holt mich in die Gegenwart zurück. Es ist Flynn.
»Ich bin hier und drehe Däumchen«, knurrt er. Im Hintergrund ist zu hören, dass er bereits in dem Restaurant wartet.
Ich sehe auf meine Uhr. Elf Uhr fünfundvierzig. Mist.
»Ich dachte, wir treffen uns um zwölf?«, sage ich und springe dabei auf.
»Das Meeting ist um zwölf. Ich bin natürlich davon ausgegangen, dass wir Zeit brauchen, um unsere Fragen abzustimmen, wie das jedem Idioten klar sein müsste.«
»Tut mir unendlich leid. Ich komme so schnell ich kann«, antworte ich und nehme die Papiere in der Mappe an mich.
»Wo genau sind Sie denn?«
»Näher als Sie denken«, lüge ich und schlage die Tür des Lagerraums zu.
Auf dem Weg nach unten öffne ich die Mappe, und ein Schlüsselset rutscht heraus und fällt herunter. Ich hebe es wieder auf und überfliege dabei hektisch die Papiere. Es scheint sich um einen Mietvertrag zu handeln – 12 Monate, Sally Atkins, Montana Avenue, New Jersey. Ich schiebe alles zusammen in meine Handtasche und mache kurz Halt beim Sicherheitsfachmann.
»Ich bin leider noch nicht ganz fertig geworden und komme heute Nachmittag zurück.«
»Kein Problem«, sagt er. »Ich habe mich inzwischen kundig gemacht. Sie können den Lagerraum nicht allein auflösen. Sie brauchen dafür die Unterschrift Ihres Ehemanns.«
Kapitel 22
Hätte ich doch bloß mehr mitgenommen, als ich aufbrach. Der Einheitsmietvertrag gibt nur so viel preis: Sie hat die Wohnung im März, drei Monate vor ihrem Tod, von jemandem angemietet, dessen Unterschrift noch unleserlicher ist als ihre eigene. Ich wiege die Schlüssel in meiner Hand und wäre am liebsten sofort dorthin. Ob ich William nicht besser anrufen sollte? »Ihr Ehemann« – vielleicht wusste er ja schon immer Bescheid, und sie hat ihren Mädchennamen nur benutzt, um damit die Steuer auszutricksen? Aber dann fällt mir wieder ein, wie gründlich er die Zeitungen studiert oder wie genau er das Weltgeschehen analysiert, weshalb er mit Sicherheit auch nicht die kleinste Unehrlichkeit dulden würde. Außerdem haftet diesem Für dich x etwas an – es ist kein an einen Ehemann gerichtetes Für dich, sondern an einen Liebhaber adressiert. Ich werde das alles herausfinden, so gut ich kann, und dann entscheiden, ob ich ihm wirklich die Wahrheit erzählen und ihn verletzen muss.
Meine Finger spüren noch immer den Worten nach, als das Taxi vor dem Pastis anhält, einem absolut trendigen französischen Bistro in einem Viertel, das, wie mir gesagt wird, als Meatpacking District bekannt ist. Um Fleischverarbeitung scheint es hier nicht mehr zu gehen – unglaublich teuer aussehende Klamottenläden und Boutiquehotels säumen die Straße –, aber mir bleibt keine Zeit, die Umgebung zu bestaunen, ich komme fast eine halbe Stunde zu spät.
Flynn sitzt an einem der besten Ecktische und nimmt eine ganze Samtbank in Beschlag, wohingegen die glücklose Interviewpartnerin sich mit einem Hocker ihm gegenüber begnügen muss. Sie ist ein schmales dunkelhaariges kleines Ding und
Weitere Kostenlose Bücher