Seit jenem Tag
Apartmentblock aus den Siebzigern, dessen Fassade ein paar vereinzelte beleuchtete Fenster zeigt. Während ich angestrengt den zweiten Stock beobachte, wird mir angst und bange. Ich drücke auf den Türsummer von Nummer 211, doch da keine Reaktion erfolgt, drehe ich vorsichtig den Schlüssel in der Eingangstür um. Muffiger Geruch beherrscht den Eingangsbereich, dessen schmuddeliger beiger Teppich mit Flecken übersät ist. Warum sollte Sally sich an einen solchen Ort begeben wollen?
Das Blut rauscht in meinen Ohren, als ich den Schlüssel im zweiten Schloss umdrehe, aber sobald die Tür aufgeht, weiß ich, dass die Wohnung verlassen ist – es ist so still, dass es unheimlich ist. Ich betrete dieses Kraftfeld mit einem bedeutungslosen Hallo und arbeite mich dann voran. Ich befinde mich in einem schmalen Flur, von dem eine hässliche kleine Kochnische abgeht. Der quadratische kleine Kühlschrank enthält nichts weiter als einen einsamen Milchkarton. Ich nehme ihn heraus: Er ist schwer und die Milch darin schon längst geronnen. Sie wurde am 11. Juni abgefüllt, eine Woche vor Sallys Tod. Mir wird schwindelig, und der Geruch verstärkt mein Unwohlsein noch. Ich leere die gestockte Milch in der Spüle aus und drehe den Wasserhahn voll auf, sodass sein Druck mir Flöckchen saurer Milch ins Gesicht weht. Warum mache ich das? Nachdem ich den Hahn zugedreht habe, stolpere ich weiter und schalte sämtliche Lampen an, um die Düsternis zu vertreiben.
Vom kleinen quadratischen Wohnzimmer aus blickt man auf den Fluss. Auf einer alten staubigen Kommode steht ein tragbarer Fernseher, dann gibt es noch ein geschmackloses rosa Samtsofa. Ich sehe mich im Raum um und erinnere mich an den selbstgefälligen Spott, mit dem Sally über die Studentenbuden herzog, in denen unsere Freunde wohnten, nachdem sie für uns die schicke Bleibe gefunden hatte. Was konnte sie in diese stinkende Absteige gelockt haben?
Ich starre durchs Fenster in die heraufziehende Dunkelheit und ziehe dabei meinen Mantel ein wenig fester um mich, weil ich mich plötzlich unglaublich allein fühle. Keiner weiß, wo ich bin, niemand auf der Welt. Aber dann fällt mein Blick auf ein leeres Glas, auf dessen Grund eine fast bis zur Unkenntlichkeit vertrocknete Zitronenscheibe liegt, daneben ein Aschenbecher mit einer einzigen Marlboro-Light-Kippe. Jetzt bin ich gleich weniger allein. Doch ich weiß nicht, was schlimmer ist.
Ich gehe weiter und öffne die nächste Tür im Flur. Es ist, als würde man eine völlig andere Wohnung betreten. Den Raum beherrscht ein großes, bequem aussehendes Bett mit einem dunkelroten Bettüberwurf, auf dem weiß gestrichenen Nachttisch steht eine Kupferlampe, die beim Anschalten ein warmes Licht verbreitet. Auf einem kleinen Sessel, in dem man sicherlich versinkt, türmt sich ein Haufen Kleider, fast als hätte Sally sie gerade erst ausgezogen, um zwischen die Laken zu gleiten. Mir ist sofort klar, dass dieser Raum das Herz des Ganzen ist, der Grund dafür, dass diese Wohnung überhaupt existiert.
Ein leichter Hauch von Chanel N° 19 verfängt sich in meiner Nase, ein Geruch, der mich überall und nirgendwohin führt, eher eine Ahnung als eine konkrete Erinnerung. Einen kurzen Augenblick lang bin ich wieder achtzehn und rieche diesen Duft zum ersten Mal. Mein Blick fällt auf die Knochen und Sehnen der Hände einer über 30-Jährigen, den Türkisring, den ich immer an meinem rechten Mittelfinger trage und der mir versichert, dass ich immer noch dieselbe bin.
Auf dem Nachttisch liegen ein paar Dinge: Ich nehme zitternd auf dem Bett Platz und ziehe ihn an mich heran. Plötzlich fühle ich mich wie eine Diebin. Habe ich das Recht, das zu tun, mich hier aufzuhalten und auseinanderzunehmen, was sie zurückgelassen hat? Hartnäckig behauptet sich das magische Denken, das mir weismachen will, sie hätte mich hierhergeführt, aber vielleicht ist es doch nur mein eigenes Bedürfnis, etwas zum Abschluss zu bringen, was sich als nobel und tapfer tarnt.
Es ist ein einziges Durcheinander, vergleichbar dem permanenten Chaos, das auch in Sallys Studentenbuden geherrscht hat. Ein billig aussehendes Mobiltelefon rutscht heraus und landet auf dem Bett. Auf dem Display ist nichts angezeigt. Dann stoße ich auf etwas, das nach einem ärztlichen Rezept aussieht, und auf ein gebundenes kleines Buch, ein Adressbuch, wie sich beim Öffnen herausstellt. Ein Streifen Passfotos fällt heraus – Sally, die ihre Arme eng um Madeline geschlungen hat, beide
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