Seitensprung ins Glück
SaveWay-Konkurrenten King Kullen ein. Er verlässt die Straße so bedachtsam, dass es mir vorkommt, als habe er mit meinem Zusammenbruch gerechnet. Wir fahren auf einen Platz am Ende einer Reihe, und Mickey reicht mir ein weißes Stofftaschentuch, etwas, was selbst ein doppelt so alter Mann heutzutage in der Regel nicht mehr bei sich trägt. Ich putze mir die Nase, kann aber nicht aufhören zu weinen.
»Habe ich sie verletzt?«, frage ich und schnäuze mich ein zweites Mal. »Hat sie etwa gedacht, ich bräuchte sie nicht mehr, nur weil ich mich auf die Suche nach meinen Eltern gemacht habe?«
Mickey nimmt mein Kinn in die Hand und dreht mein Gesicht zu sich. »Rosie«, sagt er. »Du hast sie nicht umgebracht . Sie ist einfach gestorben.«
»Was weißt denn du!«, schniefe ich und entziehe ihm mein Gesicht. »Du kanntest doch Helen nicht so gut wie ich! Sie würde alles tun, um im Mittelpunkt zu stehen …«
»… zum Beispiel einen Umweg von zwanzig Meilen auf sich nehmen, um ihren Schweinebraten zu kaufen und einen Freund für ihre Rosie zu finden? Ich glaube, ich kannte Helen.«
»Sie hat dich nicht gequält, wie sie mich gequält hat.«
»Sie hat dich geliebt, Rosie.«
Die Art, wie er das sagt, lässt mich verstummen. In seiner Stimme liegt eine Überzeugung, die man nur hat, wenn man etwas wirklich weiß.
»Und du hast sie geliebt«, schließt er.
Ich bin sprachlos.
Könnte die Wahrheit so einfach sein? Können zwei Menschen sich bekämpfen, schmollen, versuchen, einander zu gefallen, wichtige Informationen zurückhalten, einander verletzen, weglaufen, zu viel essen oder zu wenig essen und all das im Grunde nur, weil sie sich lieben?
Es scheint so.
Wie dumm und sinnlos mir dieses Ringen plötzlich vorkommt.
»Sie ist an einem Herzinfarkt gestorben. Vermutlich lag es am Rauchen. Nicht an dir.«
Mein Atem geht jetzt langsamer. Ich kann spüren, wie verquollen meine Augen sind. »Wusste sie, dass ich auf der Suche nach meinem Vater war?«
Er sieht in seinen Schoß, bevor er antwortet. »Ich habe es ihr gesagt. Sie hat auf der Suche nach dir im Geschäft angerufen, während du weg warst. Also habe ich ihr die Wahrheit gesagt.«
»Du verstehst meine Familie nicht wirklich, oder?«, bemerke ich. »Von denen sagt nie jemand die Wahrheit.«
»Sie hat dir die Wahrheit aus Liebe vorenthalten. Das war vielleicht ein Fehler, aber sie hat es gut gemeint.«
»Das können wir auf ihren Grabstein schreiben«, sage ich. »SIE HAT ALLE BELOGEN, ABER SIE HAT ES GUT GEMEINT.«
Und wieder ertappe ich mich dabei, dass ich weine. Diesmal fühlt es sich an wie eine riesengroße Erleichterung, nach diesem Spruch, der vielleicht ein guter Witz ist. Aber vielleicht ist das Leben ein guter Witz. Ich schluchze lauter.
»Komm her, Rosie«, sagt Mickey. Er nimmt mich in die Arme, und ich atme den Geruch seiner Haut und die Wärme seiner Brust tief ein. Wir bleiben lange so sitzen, vielleicht kommt es mir aber auch nur lange vor. Er hält mich fest und wiegt mich. Er hält mich und wiegt mich.
Es kommt, wie es kommen muss, und ich schlafe ein. Wir sitzen noch immer in seinem Wagen auf dem Parkplatz des King Kullen, als ich aufwache. Doch meine Augen öffnen sich und es fühlt sich an, als sähen sie eine frische, neue Welt. Eine Welt, zu der Helen nicht länger gehört, in der Ham ihr nicht länger den besten Schweinebraten mit Knochen zurücklegen muss. Mickey und ich sitzen in seinem Wagen, doch einige Meilen entfernt zieht ein Beerdigungsunternehmer Helen gerade ihr Ballkleid an. Eine Stadt weiter trauert Pulkowski in seinem Liegesessel. Zwei Bundesstaaten weiter schlägt ein Mann namens Johnny Bellusa Nägel ein und denkt über seine Tochter nach, die er gerade kennengelernt hat.
Und ich sitze neben einem Mann namens Ham. Auch das fällt mir auf und die Tatsache, wie sicher ich mich im Führerhaus seines Trucks fühle, während ich seine blöden Koteletten betrachte. Eine strahlende Sonne scheint auf die Einkaufswagen aus Chrom, und der leuchtend blaue Himmel spannt sich über uns wie ein Regenschirm. Ich drehe mich um und sehe Mickey an, und auch wenn der Zeitpunkt der Falsche ist und Mr McClain vielleicht gerade Lippenstift auf die toten Lippen meiner Großmutter aufträgt, muss ich ihm sagen, was ich entdeckt habe.
»Mickey«, sage ich, »mir ist etwas klar geworden während meines kleinen Ausflugs.«
Mickey sieht müde aus. An seinem Kinn glänzen goldene Bartstoppeln. »Was denn, Rosie?«, fragt er und klingt
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