Seitenwechsel
auf Ü-30-Partys träfe man nur ehemalige BWL-Studenten und Banker an. Aber das stimmte nicht. Es gab auch einsame LKW-Fahrer, Computerexperten, Gärtner, Sozialarbeiter, Maurer, Pädagogik-Langzeitstudenten und Arbeitslose. Und alle waren bereit, einem in weniger als fünf Minuten ihre komplette Lebensgeschichte zu erzählen. Als Ingo mich nach meiner Nummer fragte, trat ich Tina so heftig vor das Schienbein, dass sie aufschrie, bevor sie den abgemachten Spruch zum besten gab: »Dein Babysitter hat gerade angerufen, die Zwillinge schreien schon die ganze Nacht, und der Älteste hat Fieber.«
Drei Kinder reichten in der Regel. Aber bei Bedarf hätte Tina auch noch zwei nervige Teenager aus erster Ehe hinterhergeschoben.
»Darf ich jetzt nach Hause?«, fragte ich Tina müde.
Sie gab sich geschlagen.
Aber nur, um in den nächsten Wochen nichts unversucht zu lassen, mir geeignete Kandidaten für die Sex-ohne-Liebe-Phase zu suchen.
Vergeblich. In Kneipen traute sie sich mit mir nicht mehr, nachdem ich ihre Anweisung »Du trinkst, ich rede« zu genau genommen und den aufdringlichen Kerl, den Tina für mich ausgesucht hatte, nach fünf Kölsch mit einer schallenden Ohrfeige abserviert hatte. Ins Fitnesscenter, Tinas Meinung nach die Kontaktbörsen des 21. Jahrhunderts, wollte sie mich nicht mehr mitnehmen, nachdem ich mich allzu laut über die aufgeblähten Gockel an den Hantelstangen lustig gemacht hatte und diese schon gedroht hatten, ihre künstlichen Muskeln an uns auszutesten. In der Sauna war es mir zu heiß, im Theater zu langweilig, auf Konzerten zu laut. Ich war undankbar, das wusste ich. Aber ich war noch nicht bereit für den Mann für zwischendurch.
Entspannungsversuche
Dachte ich. Bis Hannes mich eines Nachmittags in sein Büro rief. Es war nie gut, in sein Büro gerufen zu werden. Er war nicht die Sorte von Chef, der seine Ansagen vom Schreibtisch aus machte. Wenn er etwas wollte, dann kam er in der Regel zu uns. In sein Büro gerufen zu werden bedeutete meistens, dass er etwas unter vier Augen besprechen wollte, und das wiederum waren ausschließlich die unangenehmen Dinge. Kritik an einem Artikel, negative Leserreaktionen auf schlampige Recherche, im schlimmsten Falle Kündigung, denn Hannes war immer noch dabei, das Ressort umzustrukturieren, und hatte von oben dafür freie Hand bekommen. Dementsprechend ernst schaute er mich auch an, als ich sein Büro betrat. Ich war mir keiner Schuld bewusst, außer dass ich mich in letzter Zeit in der Redaktion etwas rar gemacht und mehr von unterwegs gearbeitet hatte. Vor allem, um mehr Zeit mit Kai verbringen zu können, aber nicht zuletzt auch, um Hannes aus dem Weg zu gehen. Ich fand Gespräche mit ihm immer noch unangenehm und irritierend, weil ich dabei ununterbrochen daran denken musste, dass er mich näher kannte, als es für einen Chef gut war.
Er bot mir einen Stuhl an, und ich setzte mich etwas verkrampft auf den äußersten Rand. Er konnte mich jetzt nicht rausschmeißen, nicht jetzt, ich brauchte die Arbeit, sie war doch im Moment das Einzige, was mich noch am Laufen hielt, mich von meinem Trümmerhaufen, genannt Privatleben, ablenkte. Nervös sah ich ihn an und brachte kein Wort heraus.
»Ich habe das Gefühl, unsere berufliche Zusammenarbeit hat in den letzten Monaten ziemlich unter diesem ›Fehler‹, wie Sie es nannten, gelitten«, eröffnete er schließlich in einem ernsten Tonfall das Gespräch.
Zum Beweis wurde ich rot und wusste erst recht nicht mehr, was ich sagen sollte.
»Ich habe lange nachgedacht, und mir ist nur eine Lösung eingefallen«, fuhr er fort und sah mich bedeutungsschwanger an. Ich riss überrascht die Augen auf. Wie bitte? Dafür musste ich gehen? Für meinen Ausrutscher, den er überhaupt erst eingeleitet hatte, weil er mir im Kino seine Tasche in den Weg gestellt hatte? Das war ungerecht, nein sogar diskriminierend, meinen männlichen Kollegen hätte das schließlich nie passieren können.
»Ich soll kündigen?«, fragte ich mit kaum kaschierter Verzweiflung in meiner Stimme.
»Sie sollen mit mir ausgehen.«
»Wie bitte?«
»Ja, damit Sie Ihre Schuldgefühle endlich loswerden.« Er besaß tatsächlich noch die Unverschämtheit, mich anzulächeln.
»Meine Schuldgefühle?«
»Ja, weil Sie mich nur benutzt haben, um es Ihrem Ex heimzuzahlen. Und noch dazu ohne Erfolg, wenn ich so direkt sein darf.«
War er jetzt ein riesiges Arschloch oder auf eine merkwürdige Art schon wieder charmant? Ich konnte mich nicht so
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