Seitenwechsel
quatschen mal ganz in Ruhe, okay? Und keine Widerrede, ich will endlich mal meinen Enkel wiedersehen.«
Ich nickte stumm ins Telefon und legte auf. Wie nah Sieg und Niederlage doch immer wieder beieinanderlagen.
Komplizierte Gleichungen
Kai freute sich wie ein Schneekönig, als er sah, dass es bei Oma Spaghetti gab, und hörte auf zu fragen, warum Papa nicht mitkommen konnte. In der Theorie hatte er Tims und meine Erklärungen zwar verstanden und nach einigen Tränen scheinbar auch verdaut. Aber die Praxis sah bei ihm nun mal anders aus. Dass ich nicht mehr bei Tim und ihm wohnte und auch nicht mehr zurückkommen würde, hatte in seinen Augen rein gar nichts damit zu tun, dass Tim nicht mit zur Oma kommen konnte. Ich begrüßte meine Mutter müde und war froh, nicht mehr Kais bohrenden Fragen ausgeliefert zu sein. Ein Besuch bei Oma und Opa übertraf immer alles. Bei Oma gab es meistens irgendetwas zum Naschen und Opa, na ja, der war schließlich selbst noch ein halbes Kind. Chris verstand sich gut mit Kai. Manchmal hatte ich fast das Gefühl, er sah in ihm eine Art Ersatzkind für das, das er verständlicherweise mit meiner Mutter nie haben würde, weil sie mit ihren achtundfünfzig nun endgültig aus dem Alter heraus war. Auch wenn sie wesentlich jünger aussah und absolut fit war. Fitter als ich auf jeden Fall, so oft, wie sie zwischen Küche und Esszimmer hin und her sprang, bis endlich alles auf dem Tisch stand. Allerdings hätte nach diesem Wochenende wohl auch Mutter Teresa fitter gewirkt als ich, und die war bekanntlich schon tot. Der letzte Bundesligaspieltag forderte noch einmal alles von der gesamten Sportredaktion, und von mir ganz besonders, weil ich mich neben dem Alltagsgeschäft auch noch Tag und Nacht mit der Recherche für meinen Rückblick beschäftigt hatte. Ich wollte die Chance, die Hannes mir gegeben hatte, nutzen und am Ende hatte sich die Mühe gelohnt. Bis auf einen mürrischen Seitenblick von Dr. Michael Hölzer erntete ich von meinen Kollegen ausschließlich Lob dafür. Auch wenn sich der eine oder andere wunderte, dass ausgerechnet ich, als einzige Frau in der Redaktion, diesen beliebten Artikel hatte schreiben dürfen. Heute hatte ich frei gehabt und versucht, mich mental auf den Besuch bei meiner Mutter vorzubereiten. Ich hatte keine Lust, über Tim und mich zu reden, aber das war vermutlich das Einzige, worüber meine Mutter reden wollte. Doch zu meiner Überraschung hielt sie sich zurück.
»Ich werde die erste Rektorin der Kölner Uni«, versuchte meine Mutter schließlich das Abendessen zu retten, das als Feier geplant war, aber eher einem Leichenschmaus glich. Der Einzige, der den ganzen Abend unbeirrt und fröhlich vor sich hin plapperte, war Kai, der es genoss, die Nudeln mit lautem Schlürfen, ohne zu kauen, hinunterzuschlucken. Selbst Chris, eigentlich eine zuverlässige Frohnatur, war den ganzen Abend überraschend still gewesen. Als Tims bester Freund fühlte er sich vermutlich mitschuldig an unserer Trennung. Er musste lange vor mir von Tims Zweifeln, vielleicht sogar von Sarah gewusst haben, deswegen traute er sich kaum, mich anzuschauen. Die Ankündigung meiner Mutter nahm er als willkommene Ablenkung und gratulierte ihr noch einmal überschwänglich und mit drei fetten Küssen zu diesem sensationellen Schritt auf der Karriereleiter. Als ich die beiden so glücklich zusammen sah, wurde ich neidisch. Hätte mich jemand bei ihrer Hochzeit vor drei Jahren gefragt, wie lange ihre Ehe halten würde, ich hätte ihnen keine drei Monate gegeben. Und das nicht nur wegen des beträchtlichen Altersunterschiedes. Auch sonst hatte ich selten zwei Leute gesehen, die gegensätzlicher waren als meine Mutter und Chris. Sie, die trockene Mathematikprofessorin mit der perfekten Karriere, die nun mit achtundfünfzig ihren Höhepunkt erreichte. Er, der ewige kleine Junge, der alles ausprobierte und nichts zu Ende brachte. Meine Mutter hatte ihr ganzes Leben der Wissenschaft gewidmet, für sie zählte nur der Fortschritt. Chris hatte sich mal als American Footballer, mal als Journalist für Trendsportarten, dann wieder als Fotograf ausprobiert und machte seit einiger Zeit eine Ausbildung zum Erzieher, wahrscheinlich angeregt durch Kai. Aber auch da gab ich ihm nicht allzu lange. Trotzdem, die beiden waren zusammen, und sie waren glücklich. Im Gegensatz zu Tim und mir. Sie teilten ihr Leben miteinander. Ihre Probleme, ihre Erfolge. Plötzlich sehnte ich mich danach, Tim von meinem
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