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Seitenwechsel

Seitenwechsel

Titel: Seitenwechsel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leipert Sabine
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Spiegel, bevor ich mich wieder in den Flur wagte. Meine Lippen waren nicht mehr rot, zumindest nicht mehr kussrot. Sie waren normalrot, wie immer, und wahrscheinlich waren sie das auch schon wieder kurz nach Tims Kussattacke gewesen. Aber sie brannten immer noch, als hätte ich eine deftige Chilisoße gegessen. Vielleicht war es auch nur mein schlechtes Gewissen, das auf meinen Lippen brannte, aber ich hatte das Gefühl, jeder konnte schon von weitem sehen, dass ich geküsst worden war. Besonders Hannes, und der wüsste noch dazu, dass er nicht der Küsser war. Aber das Spiegelbild widersprach meinem schlechten Gewissen und versicherte mir, dass ich ungeküsst aussah, als ich die Toilette wieder verließ und Hannes in die Arme lief, der diesen Zustand augenblicklich mit einem flüchtigen Schmatzer beendete.
    »Da bist du ja schon wieder«, lächelte er, während ich mich nervös in alle Richtungen umschaute, ob uns auch ja keiner dabei beobachtet hatte. Kein Wunder, dass ich allmählich paranoid wurde, wenn ich noch nicht mal meinen richtigen Freund in der Öffentlichkeit küssen durfte. »Hast du alles bekommen?«, fragte Hannes und so hektisch, wie ich mich während des Gesprächs weiterhin umsah, hätte man vermuten können, wir redeten über die Zutaten einer selbstgebastelten Bombe.
    »Äh, ja, ich habe ähm äh Schuhe gekauft und … ähm, eine Jogginghose.« Ich brachte den Satz so mühsam zustande, als wäre er mein erster auf dieser Welt.
    »Na, das hört sich für mich als Laie doch nach einer perfekten Sport-Ausrüstung an.« Hannes verschwand nach einem weiteren Schmatzer auf meine nicht mehr ganz so ungeküssten Lippen in der Herrentoilette, und ich ging innerliche Selbstgespräche führend zu meinem Platz.
    Du musst es ihm sagen, Karina. Du musst ihm sagen, dass Tim dich geküsst hat, und den ganzen dreckigen Rest auch. Das ist doch kein Zustand.
    Ich ließ mich auf meinen Schreibtischstuhl fallen und drehte mich einmal um mich selbst. Aber wenn es doch nur ein Ausrutscher war? Gut, drei bis vier inzwischen, moralische Instabilitäten in meiner ansonsten einwandfreien, stabilen Beziehung zu Hannes. Sex mit dem Ex, das passierte jedem einmal.
    Genau, aber eben auch nur ein Mal, sagte mein innerer Teufel. Oder war es der Engel, der es schließlich nur gut mit mir meinte, während der Teufel ja eigentlich einen Höllenspaß daran haben musste, wenn ich mich tiefer und tiefer reinritt?!
    Verflixt. Und wie war eigentlich der Kuss von heute zu werten? Zählte er mehr als Sex? Schließlich waren Küsse intimer, inniger, ehrlicher. Oder hatte Tim wieder nur irgendeine verrückte Idee gehabt, die er mal ausprobieren wollte? Eine kurze Hommage an frühere Zeiten, die aber wie üblich nicht an das Original heranreichte?
    Ich beobachtete von meinem Schreibtisch aus, wie Hannes wieder in sein Büro ging. Wie lange wollte ich das Spiel noch mitspielen? Und wie lange konnte ich es überhaupt noch mitspielen, wenn ich schon wie eine Besessene quer durch die gesamte Redaktion auf die Toilette sprintete, nur weil Tim mich vor einer Viertelstunde geküsst hatte. Früher oder später würde Hannes mich durchschauen oder für verrückt erklären, und beides lief in etwa auf das Gleiche hinaus. Er würde Schluss machen, mich vor die Tür setzen und mir vielleicht noch das Kochbuch für Singles hinterherwerfen. Ich drehte noch eine Runde auf meinem Stuhl, dann stand ich entschlossen auf. Ich musste Hannes alles gestehen, und zwar genau jetzt. Dann war vielleicht noch etwas zu retten.

    »Herr Jost?« Ich lugte vorsichtig in sein Büro, obwohl seine Sekretärin mich schon angekündigt hatte.
    Hannes winkte mich herein und deutete mir gleichzeitig mit seinem Zeigefinger auf den Lippen an, ruhig zu sein, während er ein paar abschließende Worte in den Hörer sagte und auflegte.
    »Komm rein. Wo sind deine neuen Schuhe?«
    »Im Auto. Ich muss … mit dir was besprechen.«
    Hannes sah irritiert auf. »Beruflich oder privat?«
    »Privat«, erwiderte ich bedrückt und hoffte inständig, dass es keine Auswirkungen auf das Berufliche haben würde. Im Grunde hoffte ich sogar, dass es auch keine Auswirkungen auf das Private haben würde, aber das war wohl ein wenig zu optimistisch. Vielleicht war alles und jetzt doch etwas zu voreilig gewesen? Vielleicht reichte genauso gut ein bisschen und das auch eher später? Hannes lächelte mich ermutigend an, und ich blieb unschlüssig vor seinem Schreibtisch stehen. Okay, Augen zu und

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