Seitenwechsel
fuhr ihm mit beiden Händen durch die Haare und drängte ihn sanft aber deutlich dazu weiterzumachen. Ich wollte nicht mehr reden. Ich wollte müden, kuscheligen Sex. Den perfekten Abschluss eines perfekten Abends mit dem perfekten Mann. Erst als Hannes mir den Slip auszog und ich mich zum zweiten Mal an diesem Tag darüber ärgerte, dass ich den ausgeleierten Blümchenschlüpfer anhatte, den ich nur anzog, wenn alles andere in der Wäsche war, wurde mir bewusst, dass hier irgendetwas grundsätzlich falsch lief.
Sex und hopp
Was machte schnellen, verbotenen Sex eigentlich besser als guten erlaubten? Ich hätte es trotz meiner langjährigen Erfahrungen auf dem Gebiet nicht beantworten können. Trotzdem folgte ich Tim an Kais Geburtstag die Treppe zu Tinas Dachgeschoss hinauf. Wir wollten eigentlich nur das Geschenk holen. Aber inzwischen reagierten wir auf die durchgelegene Matratze so wie der Pawlowsche Hund auf die Klingel. Nur dass sie bei uns nicht den Speichelfluss in Gang brachte, sondern andere Körperflüssigkeiten. Oben angekommen begannen wir automatisch, uns die Kleider vom Leib zu reißen. Das hieß, einen Rest Respekt vor unseren Partnern und meinen Eltern, die zwei Etagen weiter unten im Garten versammelt waren und zum fünften Mal das Rolf-Zuckowski-Geburtstagslied anstimmten, bewahrten wir doch und behielten so viel wie möglich an, um für alle Notfälle gerüstet zu sein. Phase drei der Betrugsskala, deren Ende mir nicht bekannt war, weil meine bisherigen Affären meistens in dieser Phase aufgeflogen oder sang- und klanglos ausgelaufen waren, hatte begonnen. Die Sorglosigkeit hatte Einzug erhalten.
Tim drückte mir einen gierigen Kuss auf den Mund, während ich meine Gürtelschnalle selbst öffnete und gleichzeitig, von zaghaften Skrupeln befallen, in seine Mundhöhle hinein fragte, was wir denn den anderen erzählen sollten, wenn sie uns fragten, wo wir so lange geblieben waren?
»Die Pedalen!«, erwiderte Tim und schob mein T-Shirt hoch, ohne es auszuziehen.
»Hä?« Ich gab zu, das klang nicht gerade erotisch, aber die aufeinander abgestimmte Ausrede war nun mal das A und O, wenn man nicht auffliegen wollte.
»Wir mussten noch die Pedalen anschrauben«, keuchte Tim und das leuchtete mir ein. Dabei konnten schon mal zehn Minuten ins Land ziehen. Ich schob meine letzten Bedenken beiseite und stattdessen Tims Hose von seinem kleinen sportlichen Hintern.
Eine halbe Stunde später versuchte ich, mein aufkeimendes schlechtes Gewissen mit tiefschürfenden philosophischen Gedanken zu bekämpfen. Es war ein ungewöhnlich warmer Apriltag, aber den hatten wir uns nach dem langen, ungemütlichen Winter auch verdient. Ich saß in einem tiefen Liegestuhl, aus dem man nur mit viel Schwung oder fremder Hilfe wieder rauskam, und beides hatte ich gerade nicht zur Hand, und betrachtete die traute Familienidylle, die sich vor meinen Augen abspielte. Sarah deckte den Tisch, Hannes und Tim halfen Kai beim Fahrradfahren auf der Wiese, meine Mutter und Tina klatschten jedes Mal, wenn Kai zwei Meter alleine geschafft hatte, und mein Vater unterhielt sich mit Chris, dem zweiundzwanzig Jahre jüngeren Mann seiner Ex. Ich überlegte, ob wir im Grunde nicht alle einfach nur eine große Familie waren. Jeder liebte jeden – na gut, fast jeden, aber ich konnte durchaus positive Seiten an Sarah finden. Keiner stellte Besitzansprüche. Es war genug Platz für alle in unseren Herzen. Und Betten. Vielleicht waren Tim und ich und meine ganze verrückte Familie nur der Vorreiter für die neue Lebensform des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Eine Patchworkfamilie, in der jeder, der mal mit dringehangen hatte, unweigerlich durch mehr oder weniger lose Fäden mit jedem verbunden blieb. Ich schloss die Augen und gefiel mir in meinen philosophischen Überlegungen. Gut, vielleicht kamen wir auch nur schlappe vierzig Jahre zu spät. Aber als Tochter einer unterdrückten Hippie-Braut und eines schwulen Pädagogen hatte ich doch durchaus das Recht auf etwas freie Liebe und so. Auf jeden Fall war mein Leben viel harmonischer geworden, seitdem Tim und ich uns nur noch heimlich trafen. Wir funktionierten nicht als Familie, aber als Affäre lief es einwandfrei. Wir stritten nicht mehr, sondern wussten die kurze Zeit, die wir miteinander hatten, besser zu nutzen. Am Ende hatte unsere Affäre sogar noch positive Auswirkungen auf meine Beziehung mit Hannes, weil mein schlechtes Gewissen dazu führte, dass ich unsere eng bemessene Freizeit mit
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