Sekunde der Wahrheit
sagte Andrew trocken: »Wir haben am Telefon miteinander gesprochen.«
»Wirklich? Ich erinnere mich nicht.«
»Wir haben über meine Tochter gesprochen, wie ich mich deutlich entsinne.«
»Sie müssen mich mit meinem Bruder verwechseln.« Owen Chalmers schüttelte den Kopf. »Ich war das nicht, tut mir leid. Aber es ist mir ein Vergnügen, Ihre Bekanntschaft nun doch zu machen, Sir.«
»Das beruht nicht auf Gegenseitigkeit.«
Owen hatte die Hand sinken lassen. »Hören Sie, Mr. Cameron«, sagte er schwerfällig, »ich weiß nicht, welche Laus Ihnen über die Leber gelaufen ist, und es ist mir auch scheißegal.«
Daraufhin drehte Mrs. Rosser sich um. »Owen …« erkundigte sie sich, »Owen, was soll das?«
Aber Andrew, steif und unnachgiebig, unterbrach. »Daran zweifle ich nicht.« Er schien sich etwas zu überlegen, und die Hand an seiner Seite war zur weißen Faust geballt.
»Na, was soll's«, sagte Owen mit einem fast echt wirkenden Grinsen, »Sie brauchen sich gar nicht aufzuspielen.«
Christine Rosser sah mit offenem Mund von einem zum anderen und verfolgte stirnrunzelnd den Auftritt.
»Obgleich ich mein Leben lang in Virginia gelebt habe, bedaure ich es erst jetzt«, sagte Andrew mit eisiger Stimme, »daß Duelle verboten worden sind. Dann wären Sie nämlich schon tot, Mr. Chalmers.«
Damit drehte er sich um und verbeugte sich vor Brigid. »Ich bin sicher, Mr. Raynolds wird dich ins Hotel bringen, meine Liebe.«
Aber Owen vertrat ihm den Weg. »Wählen Sie Ihre Waffen, Sir«, sagte er mit triefender Unterwürfigkeit. »Pistolen oder Degen?«
»Ich kämpfe mit den Waffen, die Sie ausgesucht haben, Mr. Chalmers. Man nennt sie, glaube ich, schmutzige Tricks. Und jetzt gehen Sie mir aus dem Weg, ich brauche frische Luft.«
Zur allgemeinen Verblüffung trat Owen Chalmers beiseite, und sein rötlicher Bart funkelte in der Sonne. Aus seinen Augen aber sprach so viel zornige Feindseligkeit, daß Christine Rosser erschrak.
Das Stimmengewirr um die Rennbahn schwoll an, und die Kapelle auf dem Innenfeld begann zu spielen, als die Pferde auf die Bahn kamen.
Zwei Minuten bis zum Start.
Es wurde immer lauter und bewegter um sie herum. Aber Rachel Stoddard erlebte es nicht als Teil der brodelnden Menschenmenge wie sonst bei einem so wichtigen Rennen wie dem Oaks, sondern seltsamerweise als fast außenstehende Zuschauerin – als ginge es sie nichts an.
Oh, sie nahm schon das Hin- und Hergerenne auf der Tribüne, die Wetten zu letzter Minute, das Blinken der Anzeigetafel des Totalisators mit den wechselnden Quoten wahr. Miß Mariah stand nicht mehr auf drei zu zwei, sondern auf zwei zu eins, und Golden Ciaire auf vier zu eins. Sie registrierte das alles mehr oder weniger abwesend.
Wenn nur die Sonne nicht so grell scheinen würde, wenn sie doch nur schon in der schwarzen Limousine zurück ins Hotel fahren könnte, ins Bett …
Die Pferde befanden sich an den Startboxen. Ob Miß Mariah wie üblich bocken würde oder sich zur Abwechslung mal wie eine Dame aufführte? Marty's Laugh auf Position eins stand bereits startbereit. Und noch zwei andere. Rachel Stoddard hob das Fernglas an die Augen, aber es fiel ihr nicht leicht. Ihre Arme waren schwer vor Müdigkeit, alles war so anstrengend.
Dann war das Feld gestartet. Sie fühlte sich immer konfuser. Verschwommen sah sie ein Feld von Farben und Pferden vorüberhuschen, alle noch dicht beieinander, bis auf eins an der Spitze, die rot-blauen Rennfarben von Calumet, das mußte Golden Ciaire sein …
Neben ihr stand wie ein Fels Crichton, und in den Logen ihrer vielen Freunde ringsum herrschte ein frenetisches Anfeuerungsgeschrei, in das sie sonst immer eingestimmt hatte, aber heute …
Nun galoppierten die Pferde bereits auf der Gegengeraden, wie schnell das ging. War es immer schon so schnell gegangen? Heute konnte sie nicht so recht folgen, aber sie bekam doch mit, wie Golden Ciaire mit zwei Längen führte, gefolgt von der Nummer eins, Marty's Laugh, und in dritter Position lag Pepe auf der Außenseite. Es fiel ihr schwer, das Fernglas an die Augen zu halten, und krampfhaft mußte sie ihre Ellbogen am Körper abstützen. Jetzt galoppierten die führenden Pferde bereits im Zielbogen.
Crichton an ihrer Seite verfolgte das Rennen wie immer mit stoischer Ruhe, wußte aber hinterher den gesamten Rennverlauf und jeden Positionswechsel genau wiederzugeben und zu analysieren. Sie mußte Crichton noch etwas sagen, etwas Wichtiges, solange es noch nicht zu
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