Sekunde der Wahrheit
Schaufensterscheiben trotz des Drecks reflektiert, stach ihr in die Augen. Leute rempelten sie an. Sie erstickte fast am Gestank, an den Abgasen, an der Hitze. Und sie war müde – mein Gott, sie war zum Umfallen müde. Wie weit war sie schon gelaufen? Die Füße trugen sie kaum noch.
Dann packte sie doch die Panik. Obgleich sie wußte, wer sie war – Kimberley Cameron natürlich –, und obgleich sie wieder dieser schemenhaften, mysteriösen und lautlosen Schattenwelt entronnen war, passierte jetzt alles viel zu schnell. Der Stummfilm war gerissen, alles war übermäßig klar und hell und lebhaft, schwirrte ihr vor den Augen vorüber. Der Lärm überfiel sie von allen Seiten, der Tonfilm raste vor ihren Augen ab, aber viel zu schnell, um ihn zu begreifen.
Sie mußte sich zusammennehmen, mußte herausfinden, wo sie war. Es war eine Großstadt mit einer Hochbahn, mit vielen Menschen. Wie lang war sie schon hier? Wie war sie hierher gekommen? Kein Grund zur Panik. Langsam. Wie war sie hergekommen und wo befand sich der neue rote Porsche, den sie Clay geschenkt hatte.
Clay. Hatte Clay sie hergebracht? Er wollte doch immer, daß sie mit ihm wegging – aber wo war sie. Wo?
»Entschuldigen Sie, Miß …«
Sie schaute einer alten Frau in die Augen, rotgerändert und altersschwach, aber sehr freundlich. Ein Einkaufsnetz hing ihr am Arm.
»Ich will Sie nicht belästigen, aber kann ich Ihnen helfen?«
»Nein, danke, es geht schon. Mir ist nur … schwindelig.«
»Das liegt sicher an der Hitze, Miß.« Ihre Blicke waren vorsichtig abwägend. »Geht es Ihnen wirklich gut?«
»Ich bin nur ein wenig benommen.«
»Na, ja wenn Sie meinen …«
Die Frau wandte sich zum Gehen. Sie konnte sie nicht fortlassen.
»Wo … wo bin ich?«
»Wo? Na, auf der Monroe Street zwischen State und Michigan. Soll ich Ihnen ein Taxi rufen?«
Monroe, State, Michigan. In welcher Stadt aber? Wo denn, wo?
»Passen Sie auf sich auf, Miß, Chicago ist ein heißes Pflaster.«
Chicago? Die Frau ging schlurfend die Straße entlang. Monroe Street. Die alte Dame hatte ihr die Stadt genannt, ohne daß sie danach fragen mußte.
Wie war sie hierher gekommen? Nach Chicago?
Sie ging weiter, obgleich ihre Muskeln und Knochen gegen jede Belastung protestierten, und sie wieder Kopfschmerzen hatte. Da fiel es ihr wieder ein. Sie war auf einer Autobahn gefahren und hatte gerade den Mann abgeschüttelt, der sie verfolgt hatte, den Andrew angestellt hatte, sie war nichts ahnend zwischen grünen Wiesen dahingesegelt, als es so seltsam in ihrem Kopf geklickt hatte …
Aber wann war das gewesen? Wieviel Zeit war seitdem verstrichen? Und wo war der Wagen?
Eine komplette Leere, nichts. Und sie wußte, daß sie nicht dahinter kommen würde, gleichgültig, was sie mit ihrem Gedächtnis anstellte und wie sie ihr Gehirn auszutricksen versuchte.
Sie versuchte, sich damit abzufinden. Das war das Schlimmste an der Geschichte, der erschreckendste Teil, unerträglich, ein unlösbares Geheimnis. Es war, als sei ihr ein Teil ihres Lebens aus den Händen genommen.
Sie erreichte die Michigan Avenue, die ihr von Besuchen mit Andrew entfernt bekannt vorkam. Was trug sie eigentlich? Ein schlichtes, beiges Kleid, das jetzt verknautscht war, eine Strumpfhose, flache Schuhe. Keine Handtasche.
Wie war sie ohne alles nach Chicago gelangt? Sie wagte kaum, daran zu denken. Und Virginia war so schrecklich weit von Louisville entfernt.
Louisville. Das Derby. Das Kentucky Oaks. Sie mußte unbedingt das Oaks anschauen. Wie spät war es?
Welcher Tag?
Vor einem amtlich wirkenden Gebäude mit breiten Stufen mußte sie sich einfach hinsetzen, die Beine machten einfach nicht mehr mit …
Es saßen noch mehr Leute da, meistens junge in Jeans oder Flatterröcken, Junge mit Barten, und einige hatten Skizzenblöcke dabei.
Sie fühlte sich hundeelend, ihr Kopf schmerzte und ihre Füße glühten. Sie mußte viele Kilometer gewandert sein, und ihr Kopf schmerzte in stechenden Wellen. Aber sie mußte fragen, mußte es herausfinden …
»Verzeihen Sie …«
Ein gut angezogenes Paar in mittleren Jahren kam die Stufen herab. Sie blieben höflich stehen.
»Ja?« fragte die Frau in vorsichtigem Ton, abweisend, wenn auch nicht direkt feindselig. »Was ist?«
»Können Sie mir bitte sagen, wie spät es ist?«
Der Mann schaute auf die Uhr. »Zwanzig Minuten nach sechs.«
Hastig fragte sie: »Was ist heute für ein Tag?«
Das Paar schaute sich erstaunt und vielsagend an. »Was
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