Sekundentod: Kriminalroman (German Edition)
hier bekommen?«
»Ja.«
»Wie geht es dir jetzt?«
»Alles wunderbar. Ich habe einen gesunden Jungen zur Welt gebracht.«
»Wie heißt er?«
»Ich weiß es noch nicht. Mein Mann und ich hatten uns noch nicht entschieden, bevor ich …«, sie zögerte. Ihr Blick ging kurz zur Kamera hinauf. Sie durfte auf keinen Fall etwas Falsches sagen, um ihn nicht zu verärgern. »Bevor ich herkam«, vollendete sie schließlich ihren Satz.
»Was glaubst du, hat er mit uns vor?«, fragte Lena leise und ängstlich.
»Wenn du eine gute Mutter bist, hast du nichts zu befürchten, Lena. Sieh zur Decke, dort ist eine Kamera, so dass er rund um die Uhr auf uns aufpassen kann. Es ist alles in Ordnung.« Sie hoffte inständig, dass Lena den Hinweis richtig verstanden hatte und jetzt nichts Falsches sagte.
»Also geht es nur darum? Wir sollen gute Mütter sein?«
»Ganz allein darum!«, bestätigte Kerstin mit fester Stimme. »Es ist gut, dass er uns hergebracht hat. Nur so kann er sicherstellen, dass wir uns um unsere Kinder kümmern werden.«
»Ich verstehe«, antwortete Lena.
»Ich lege mich jetzt ein bisschen zu meinem Sohn. Wir können später noch mal reden, wenn du möchtest. Es ist noch jede Menge Zeit, bis wir eine Stunde voll haben.«
»Danke«, sagte Lena. »Das tat gut.«
»Bis später.«
Kerstin ging zu ihrer Pritsche, hob ihren Sohn vorsichtig hoch, damit er nicht aufwachte, und legte sich zu ihm und schloss die Augen. Sie dachte darüber nach, wie sie sich den Umstand, nun mit ihrer Zellennachbarin reden zu dürfen und dabei zu wissen, dass er Wort für Wort verfolgen würde, was sie sprachen, zunutze machen konnte. Über diese Gedanken schlief sie ein. Es musste eine Weile vergangen sein, als sie durch ein Geräusch in der Stallgasse geweckt wurde. Müde schlug sie die Augen auf und sah ihn vor ihrer Zelle stehen. Er hatte wieder diesen Blick, dieses wütende Funkeln. Sie musste sehr vorsichtig sein. Ein unbedachtes Wort, und er würde explodieren. Sie bemühte sich um ein Lächeln.
»Du bist wieder da. Das ist schön.«
»Nein!«, brüllte er. »Ich habe etwas falsch gemacht. Falsch!«
Sie versuchte, ihrer Stimme einen sanften Klang zu geben. »Wirklich? Was denn?«
»Ich weiß es nicht.« Er raufte sich die Haare, seine Augen suchten einen Punkt, rollten herum, die Lider flackerten. »Ich weiß nicht, weiß nicht, weiß nicht!«, stammelte er und schlug sich immer wieder gegen den Kopf.
»Willst du es mir sagen?«
»Ich weiß es doch nicht«, brüllte er so laut, dass ihr Sohn aufwachte und zu weinen begann. Sofort nahm sie ihn hoch, drückte ihn an sich. Es musste ihr gelingen, das Kind zu beruhigen. So aufgebracht wie er war, wäre es möglich, dass er ihr den Säugling entriss und einfach gegen die Wand schlug.
»Er soll aufhören!«, schrie er hysterisch.
Kerstin nahm all ihren Mut zusammen. Sie musste etwas sagen, ihn überraschen, aus seinem Wahn herausbringen, ihn verunsichern.
»Nein, nicht er muss aufhören! Sondern du! Du bist der Ältere von euch beiden! Wer ist älter, Rebecca oder du?«
Er keuchte, wieder die flackernden Lider, die rollenden Augen.
»Ich habe dich gefragt, wer von euch älter ist?«, wiederholte Kerstin.
»Becci!«
»Siehst du! Sie hat die Aufgabe, dir zu zeigen, wie du richtig handelst. Hör also auf zu schreien, dann wird auch das Baby aufhören.« Zärtlich streichelte sie ihrem Sohn über den Rücken, legte ihn an ihre Schulter. Sein Jammern wurde weniger, bis es in ein zufriedenes Glucksen überging. Ihr Instinkt war richtig gewesen, den Namen der Frau zu erwähnen, für die er allem Anschein nach die ekelhaften Videos aufnahm.
»Siehst du! Kaum bist du ruhiger, hat mein Sohn begriffen, was er zu tun hat. Das hast du gut gemacht.«
Seine Augen wurden ruhiger, fanden Kerstins Blick.
»Aber ich habe etwas falsch gemacht.«
»Wie kommst du darauf?«
»Ich habe mein Geschenk nicht bekommen.«
»Was für ein Geschenk?«
»Meine Trüffel.«
»Von wem bekommst du sie denn normalerweise?«
»Von Rebecca. Immer. Sie hätten heute kommen müssen, so wie immer.«
»Bringt sie das Geschenk immer selbst vorbei?«
»Nein.«
»Dann bringt es ein Bote?«
»Ja.«
»Vielleicht ist er krank geworden.«
»Aber er muss mir mein Geschenk bringen.«
»Da hast du recht. Aber warum rufst du Rebecca nicht an und erzählst ihr, dass du dein Geschenk nicht bekommen hast?«
»Das geht nicht. Ich darf sie nicht anrufen.«
»Warum nicht?«
»Sie will nicht
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