Sekundentod: Kriminalroman (German Edition)
ersten Tagen ihrer Gefangenschaft hatte sie massive Schläge eingesteckt, als sie ihm widersprochen hatte bei der Behauptung, der Junge auf dem Foto, das er ihr gezeigt hatte, wäre ihr Sohn. Schließlich hatte sie verstanden, sich gefügt, sein Spielchen mitgemacht. Sie wusste nicht, wer der Junge auf dem Bild war, doch ahnte sie, dass es ein Kindheitsfoto von dem Mann war, der sie gefangen hielt. Sie selbst hatte noch keine Kinder, abgesehen von dem Ungeborenen, das sie unter dem Herzen trug und jeden Tag mehr Platz einforderte. Sie war Ende des siebten Monats, und ihr Bauch wölbte sich bereits beachtlich. Alles wollte sie tun, um den Fötus zu schützen. Vor allem musste sie klug sein und gut zuhören, um nicht eine seiner versteckten Warnungen zu überhören. Schon früh hatte sie dies lernen müssen. Ihr Vater war Alkoholiker gewesen. Unberechenbar. Gewalttätig. Sie hatte es immer an seinen Augen abgelesen, was ihrer Mutter und manchmal auch ihr bevorstand. Einmal, es war ein Freitag gewesen, das erinnerte sie noch genau, war er später als sonst nach Hause gekommen. Kerstin und ihre Mutter hatten schon seit Stunden gewartet, als die Haustür aufgeschlossen wurde und ihr Vater polternd die Wohnung betreten hatte. Sofort hatte Kerstin die Angst im Blick ihrer Mutter bemerkt. Kerstin war damals noch keine zehn Jahre alt gewesen. »Lauf weg«, hatte sie ihrer Mutter zugeflüstert, weil es das Einzige war, das ihr in diesem Moment einfiel, um ihre Mutter vor dem Unausweichlichen zu bewahren. Doch diese hatte sich nur gerade hingesetzt, die Arme ausgestreckt und Kerstin so aufgefordert, zu ihr zu kommen. Ganz eng hatte sie sich an ihre Mutter geschmiegt, ihre kleinen Hände in ihr Oberteil gekrallt, damit er nur nicht zu nah an sie herankommen konnte, wenn er jeden Augenblick das Zimmer betreten würde. Und da stand er plötzlich im Türrahmen, breitbeinig, ihr Vater, für den sie nichts als Hass empfand und der ihrem Bild von einem Monster gleichkam. »Wo ist mein Essen?«, hatte er gebrüllt, und sofort hatte ihre Mutter sich aus Kerstins Umklammerung befreit und war aufgestanden, um in die Küche zu eilen. Als sie sich an ihrem Mann vorbeidrücken wollte, hatte er sie an den Haaren gepackt. »Nicht einmal ein warmes Essen bekommt man hier in diesem Sauladen.« Er hatte die Stirn ihrer Mutter mit einer solchen Wucht gegen den Türrahmen gepresst, dass ihre linke Augenbraue aufgeplatzt war. Kerstin hatte losgeheult, bereute es jedoch sofort wieder, weil ihr Vater es zum Anlass genommen hatte, seine Frau weiter zu beschimpfen. »Dieses elende Balg, das du auf die Welt gebracht hast«, hatte er geschrien, »dieses kleine Miststück, das mir nur auf der Tasche liegt.« Voller Abscheu hatte ihr Vater Kerstin angesehen. Dann hatte er seine Frau an den Haaren in die Küche gezerrt und die Tür war krachend hinter ihnen ins Schloss gefallen. Kerstin erschien es wie eine Ewigkeit, bis ihre Mutter wieder herauskam. Sie war gekrümmt zum Bad hinübergeschlichen. Als Kerstin über den Flur gehuscht war, um ihr zu folgen, sah sie, dass ihr Vater am Tisch saß und sein Essen in sich hineinstopfte. Kerstin hatte in ihrem Innern gewusst, dass er ihre Mutter nicht nur dazu gezwungen hatte, ihm das Abendessen aufzuwärmen. So früh es ihr finanziell möglich gewesen war, war sie von zu Hause ausgezogen und hatte sich sogar in einer anderen Stadt beworben.
Und nun war sie hier gefangen, einzig und allein durch ihre Naivität. Sie durfte sich keinen weiteren Fehler erlauben.
Er starrte sie an. »Und? Wie willst du deinen Sohn jetzt bestrafen? Er war böse und hat eine Strafe verdient.«
Kerstin bemühte sich, ihrer Stimme einen sanften Klang zu verleihen und dabei das Zittern zu unterdrücken. »Er hat eine Strafe verdient«, begann sie vorsichtig. »Aber bist du dir ganz sicher, dass er all die Lügen verbreitet hat?«
Er ballte seine Hand zur Faust. »Er hat gelogen!«, brüllte er heraus. »Er lügt immer. Immer, immer! Er ist ein Stück Dreck.«
»Er ist kein Stück Dreck!« Es klang schärfer, als sie es beabsichtigt hatte. »Findest du nicht, dass wir nachgiebig sein sollten? Er ist doch noch ein Kind.«
Seine Augen funkelten wütend. »Er ist ein verlogenes Kind, und verlogene Kinder müssen bestraft werden.« Sein Blick fiel auf Kerstins Bauch. Unwillkürlich legte sie die Hand darauf.
»Aber ich bin seine Mutter, und es ist meine Aufgabe, meinen Sohn zu beschützen.«
»Es ist deine Aufgabe, ihn zu bestrafen.« Noch
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