Sekundentod: Kriminalroman (German Edition)
durchdrang ein gellender Schmerzensschrei die Stille. Der Schrei einer Frau, gequält und fast schon tierisch. Kerstin war wie erstarrt. Was hatte er getan?
»Was soll das? Halt dein schändliches Maul oder ich steche dich ab!« Es war die Stimme ihres Entführers, die sie hörte. Vorsichtig erhob sich Kerstin von der Pritsche und ging zitternd zu den Gitterstäben hinüber.
»Ich bekomme mein Kind!« Schmerzhaft hatte die Frau die Worte hervorgepresst.
»Nein«, keifte der Peiniger zurück. »Ich habe noch nicht entschieden, ob ihr leben dürft.« Es klang fast trotzig, als wollte er klarstellen, wer hier die Regeln aufstellte.
»Du verfluchter Dreckskerl!«, hörte Kerstin die Frau schreien. »Es ist mir scheißegal, was du erlaubst oder nicht. Mein Kind kommt.« Das letzte Wort war ein langgezogener Schmerzenslaut, dann wieder ein Schrei.
»Nein!« Es klang, als wäre der Entführer unsicher. Kerstin lauschte. Das Keuchen der Frau drang bis zu ihrer Zelle herüber.
»Hör auf damit! Du darfst das Kind jetzt nicht kriegen.«
Die Frau brüllte ihren Wehenschmerz heraus, reagierte nicht mehr auf den Peiniger.
Kerstin lauschte. Sie hörte Schritte. Kam er zu ihrer Zelle herüber? Rasch rannte sie zu ihrer Pritsche und legte sich wieder hin. Keinen Augenblick zu früh, wie sie erkannte. Schon im nächsten Moment hörte sie das Quietschen, mit dem ihr Verschlag geöffnet wurde.
»Komm. Du musst ihr helfen.«
»Aber ich …« Sie brach ab. Das Funkeln in seinen Augen bescherte ihr eine Gänsehaut. »Kann ich mir etwas überziehen?«
»Du darfst die Sachen nicht schmutzig machen.« Es klang, als mahnte er ein kleines Kind.
Sie wollte protestieren, musste sich zurücknehmen, ihn nicht anzubrüllen. Wie sollte sie bei der Geburt eines Kindes helfen und dabei die Kleidung unversehrt lassen?
»Hast du einen Kittel für mich? Oder etwas anderes? Etwas Altes?«
»Nein. Komm jetzt.«
Nackt, wie sie war, folgte sie ihm aus der Zelle heraus. Er knipste eine Taschenlampe an. Im schwachen Schein gingen sie nach links, während sie sonst stets nach rechts in Richtung des Raumes gegangen waren, in dem die Kamera stand. Ihre Zelle war die letzte in der Gasse, und das erste Mal hatte sie die Gelegenheit, an den anderen ehemaligen Pferdeboxen vorbeizugehen. Ein flüchtiger Blick verriet ihr, dass sie mit ihrer Vermutung recht gehabt hatte. Neben der Gebärenden, zu der sie unterwegs waren, hielt er noch mindestens eine weitere Frau hier gefangen, die nackt auf ihrer Pritsche saß und nur ängstlich den Kopf hob, als Kerstin vorbeiging. Ihr Herz schlug schneller, als ihre Blicke sich trafen und sie der Frau kurz in die Augen sah. Fast unmerklich nickte Kerstin ihr zu.
Ein neuerlicher Aufschrei ließ sie nach vorn sehen. Der Entführer hatte bereits die Zelle der Gebärenden erreicht. Kerstin warf einen Blick durch die Gitterstäbe. Die Frau lag nackt auf dem Steinboden, die Beine gespreizt und den Oberkörper auf die Arme gestützt. Sie brüllte ihren Schmerz heraus.
»Wir brauchen Decken und Kissen! So viele, wie du finden kannst.«
Er drehte sich zu Kerstin um. Ein böses Funkeln lag in seinen Augen. Fast glaubte sie, dass er im nächsten Moment zuschlagen würde. Zögerlich legte sie ihre Hand auf seinen Unterarm. »Ich weiß, dass du nicht willst, dass dem Kind etwas geschieht. Decken, Kissen, heißes Wasser und saubere Tücher. Ich werde bei ihr bleiben und ihr helfen. Bitte beeile dich.«
Seine Augen zuckten rasch hin und her, schienen einen Punkt zu suchen. Er sah zu Boden, bewegte seinen Kopf, als ob er Selbstgespräche führte, und ließ sie plötzlich einfach stehen. Kerstin war verblüfft. Sie war unbewacht! Ihr Blick fiel auf die Frau in der Zelle, dann zu dem breiten Tor hinüber. Er war in die andere Richtung davongelaufen. Es waren vielleicht zehn Meter, mehr nicht. Wenn sie losrannte, könnte sie das Tor erreichen. Was, wenn es nicht verschlossen war? So, wie es aussah, war nur ein Riegel lose von innen auf die Halterung gelegt.
Die Gebärende wurde von einer neuerlichen Wehe erfasst, und Kerstin zuckte zusammen. Ihr Herz klopfte wild. Das Tor! Wenn sie es erreichte und ihr die Flucht gelang, konnte sie Hilfe holen. Womöglich könnte sie so die anderen retten. Doch was würde er mit ihnen anstellen, sobald er zurückkam und ihre Flucht bemerkte?
»Flieh!«, rief ihr die Frau zu, die vor Schmerzen gekrümmt am Boden lag. Offenbar hatte sie Kerstins Blick gesehen und ihre Gedanken erahnen können.
Weitere Kostenlose Bücher