Sekundentod: Kriminalroman (German Edition)
hervor. Ihr wurde angst und bange bei dem Gedanken, wie sie dem Säugling gerade den Hals langzog. Es kam ihr unwirklich, ja, beinahe unnatürlich vor, dass Geburten tatsächlich so vonstattengingen.
Sie hörte, wie die Tür der Zelle geöffnet wurde, ließ sich davon aber nicht ablenken.
»Du musst noch mal pressen, Sabine! Gleich ist es geschafft!«
Wieder wurde ein Schwall Blut mit herausgepumpt, doch dieses Mal gelang es Kerstin, das Kind vollständig aus dem Geburtskanal herauszuziehen.
»Ich habe entschieden, dass das Kind leben darf.« Er sah Sabine an, die kaum wahrzunehmen schien, was er ihr sagte. »Und du auch. Wenn ihr fertig seid, darfst du gehen.«
Kerstin war wie erstarrt. Er ließ Sabine frei! Hoffnung keimte in ihr auf. Doch schon im nächsten Augenblick machte sich erneut Panik in ihr breit. Das Kind atmete nicht.
12
Mittwoch, 7 . August, 0 . 35 Uhr
Als Falko Cornelsen nach Hause kam, war es schon nach Mitternacht. Heike schlief bereits, doch er wusste, dass es keinen Sinn hatte, sich jetzt neben sie zu legen. Er musste seine Gedanken sortieren, Klarheit erlangen. Also nahm er sich seinen Aktenkoffer mit den Fotos und stieg in den Keller hinab. Mit einem Surren sprangen die Neonleuchten an und warfen blaues Licht an die Wände. Er ging weiter bis zu dem Raum, in dem er seine Modelle fertigte und aufbewahrte. Der große Holztisch in der Mitte war leer. Er hob seinen Koffer an, holte die Tatortfotos hervor und breitete sie aus. Dann zog er einen Zettel aus der Mappe, auf dem er nach Augenmaß die ungefähren Abmessungen von Rebecca Ganters Wohnzimmer notiert hatte. Er griff in das Regal, in dem er je zehn Zentimeter breite Paneele mit Nut und Feder auf einem Stapel bereithielt. Jedes dieser Holzstücke stellte ein Wandmaß von einem Meter dar. Direkt daneben lagen noch weitere Holzstücke, die jeweils halb so breit waren. Cornelsen kam es nicht so sehr auf die exakte Darstellung des Raumes an. Ein halber Meter mehr oder weniger war seiner Erfahrung nach nicht entscheidend. Vielmehr musste es ihm gelingen, das Zimmer so nachzustellen, dass es den Eindruck, den er am Tatort gewonnen hatte, wiedergab. Der Raum, so schätzte er, hatte etwa sieben mal vier Meter. Die Fensterfronten stellte er mit Paneelen dar, aus denen er mit einer Stichsäge jeweils einen Großteil des Innenraums herausgesägt hatte, so dass nur noch ein Rahmen vorhanden war. Es gab weitere vorbereitete Stücke in seinem Sortiment, bei denen er nur den oberen Teil als Fenster herausgelöst hatte. Für die Tür ließ er lediglich eine Öffnung frei. Nach und nach nahm der Raum, in dem die Leiche von Rebecca Ganter gefunden worden war, Gestalt an. Er griff sich einen der Miniaturtische, der ihm von der Größe her passend erschien, und stellte ihn ebenso an seinen Platz wie einen Schreibtischstuhl, eine Couch und ein Sideboard. Selbst den Flokatiteppich stellte er mit einem hellen Stoffstück nach. Falko warf einen Blick auf die Tatortfotos, nahm sich eine der Miniaturpuppen, band sie mit einem Faden an den Stuhl und legte diesen auf den Boden, so dass es aussah, als sei dieser mitsamt dem Opfer darauf umgestürzt. Mit einer Schere schnitt er von einem weißen Blatt Papier einige Schnipsel ab und verteilte sie auf Schreibtisch und Boden, ganz so, wie es auf den Fotos zu sehen war. Er trat einen Schritt zurück und betrachtete sein Werk. Viele der für ihn so wichtigen Details fehlten noch. Er ging um den Tisch herum und beugte sich so weit herab, dass er fast in Tischhöhe durch das offene Stück, dort wo er den Platz für die Tür gelassen hatte, sehen konnte. Er spürte, wie sein Körper die Erinnerung an die Tatortbegehung abrief. Langsam erhob er sich, stellte sich gerade hin, ließ die Schultern sinken und schloss seine Augen. Einatmen! Zweihundert, ausatmen, einhundertneunundneunzig. Einatmen, einhundertachtundneunzig, ausatmen, einhundertsiebenundneunzig. Er musste bis einhundertneunundachtzig zählen, bis er spürte, dass sein Geist bereit war, loszulassen und ihn in die Situation des Täters zu versetzen. Er öffnete seine Augen, ging noch einmal in die Position, aus der er durch die geöffnete Tür eintreten konnte. Langsam richtete er sich auf. Er spürte, wie er mit den Augen des Täters in das Zimmer kam. Er sah die Fensterfronten vor sich, den Garten. Die Idylle des Häuschens im Wald hatte etwas Beruhigendes. Drei Schritte noch, dann konnte er Rebecca Ganter am Schreibtisch sitzen sehen. Sie drehte ihm den Rücken
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